Ich muß Dir schreiben, Eduard, und wär' es auch nur der lieben Gewohnheit wegen. Sollte man doch fast schwören, das Leben wäre bei den meisten Menschen nichts weiter, als eine Gewohnheit, so nüchtern unbefangen, so jämmerlich und phlegmatisch schleppen sie sich durch die spannenlange Zeit, die ihnen vom kargen Verhängnisse gegönnt ist.
Daß mein Vater mir meine Bitte abgeschla- gen hat, wirst Du wissen; eine Sache, die mir jezt ganz gleichgültig ist. Es kommt mir manch- mal vor, als würde mir überhaupt das sehr gleichgültig werden, was man im gemeinen Le- ben Unglück nennt. Da ich auf dieser Seite nicht mein Glück habe finden können, muß ich es natürlicherweise auf der andern suchen. Ich will von Stufe zu Stufe klettern, um die ober- ste und schönste Spitze der Freude zu finden und hoch herab auf alle Trübsale und Demü- thigungen blicken, womit die Sterblichen in
Lovell, I. Bd. A a
38. William Lovell an Eduard Burton.
Rom.
Ich muß Dir ſchreiben, Eduard, und waͤr’ es auch nur der lieben Gewohnheit wegen. Sollte man doch faſt ſchwoͤren, das Leben waͤre bei den meiſten Menſchen nichts weiter, als eine Gewohnheit, ſo nuͤchtern unbefangen, ſo jaͤmmerlich und phlegmatiſch ſchleppen ſie ſich durch die ſpannenlange Zeit, die ihnen vom kargen Verhaͤngniſſe gegoͤnnt iſt.
Daß mein Vater mir meine Bitte abgeſchla- gen hat, wirſt Du wiſſen; eine Sache, die mir jezt ganz gleichguͤltig iſt. Es kommt mir manch- mal vor, als wuͤrde mir uͤberhaupt das ſehr gleichguͤltig werden, was man im gemeinen Le- ben Ungluͤck nennt. Da ich auf dieſer Seite nicht mein Gluͤck habe finden koͤnnen, muß ich es natuͤrlicherweiſe auf der andern ſuchen. Ich will von Stufe zu Stufe klettern, um die ober- ſte und ſchoͤnſte Spitze der Freude zu finden und hoch herab auf alle Truͤbſale und Demuͤ- thigungen blicken, womit die Sterblichen in
Lovell, I. Bd. A a
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0371"n="363[361]"/><divn="2"><head>38.<lb/>
William Lovell an Eduard Burton.</head><lb/><dateline><hirendition="#et">Rom.</hi></dateline><lb/><p><hirendition="#in">I</hi>ch muß Dir ſchreiben, Eduard, und waͤr’ es<lb/>
auch nur der lieben Gewohnheit wegen. Sollte<lb/>
man doch faſt ſchwoͤren, das <hirendition="#g">Leben</hi> waͤre bei<lb/>
den meiſten Menſchen nichts weiter, als eine<lb/><hirendition="#g">Gewohnheit</hi>, ſo nuͤchtern unbefangen, ſo<lb/>
jaͤmmerlich und phlegmatiſch ſchleppen ſie ſich<lb/>
durch die ſpannenlange Zeit, die ihnen vom<lb/>
kargen Verhaͤngniſſe gegoͤnnt iſt.</p><lb/><p>Daß mein Vater mir meine Bitte abgeſchla-<lb/>
gen hat, wirſt Du wiſſen; eine Sache, die mir<lb/>
jezt ganz gleichguͤltig iſt. Es kommt mir manch-<lb/>
mal vor, als wuͤrde mir uͤberhaupt das ſehr<lb/>
gleichguͤltig werden, was man im gemeinen Le-<lb/>
ben <hirendition="#g">Ungluͤck</hi> nennt. Da ich auf dieſer Seite<lb/>
nicht mein Gluͤck habe finden koͤnnen, muß ich<lb/>
es natuͤrlicherweiſe auf der andern ſuchen. Ich<lb/>
will von Stufe zu Stufe klettern, um die ober-<lb/>ſte und ſchoͤnſte Spitze der Freude zu finden<lb/>
und hoch herab auf alle Truͤbſale und Demuͤ-<lb/>
thigungen blicken, womit die Sterblichen in<lb/><fwplace="bottom"type="sig">Lovell, <hirendition="#aq">I.</hi> Bd. A a</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[363[361]/0371]
38.
William Lovell an Eduard Burton.
Rom.
Ich muß Dir ſchreiben, Eduard, und waͤr’ es
auch nur der lieben Gewohnheit wegen. Sollte
man doch faſt ſchwoͤren, das Leben waͤre bei
den meiſten Menſchen nichts weiter, als eine
Gewohnheit, ſo nuͤchtern unbefangen, ſo
jaͤmmerlich und phlegmatiſch ſchleppen ſie ſich
durch die ſpannenlange Zeit, die ihnen vom
kargen Verhaͤngniſſe gegoͤnnt iſt.
Daß mein Vater mir meine Bitte abgeſchla-
gen hat, wirſt Du wiſſen; eine Sache, die mir
jezt ganz gleichguͤltig iſt. Es kommt mir manch-
mal vor, als wuͤrde mir uͤberhaupt das ſehr
gleichguͤltig werden, was man im gemeinen Le-
ben Ungluͤck nennt. Da ich auf dieſer Seite
nicht mein Gluͤck habe finden koͤnnen, muß ich
es natuͤrlicherweiſe auf der andern ſuchen. Ich
will von Stufe zu Stufe klettern, um die ober-
ſte und ſchoͤnſte Spitze der Freude zu finden
und hoch herab auf alle Truͤbſale und Demuͤ-
thigungen blicken, womit die Sterblichen in
Lovell, I. Bd. A a
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 1. Berlin u. a., 1795, S. 363[361]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell01_1795/371>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.