Dein Brief, lieber Freund, der mich trösten, der mir den Zusammenhang der Dinge im wah- ren Gesichtspunkte zeigen sollte, ist zu spät ge- kommen. Ich war vielleicht schon ruhig, als Du die Feder ansetztest, um mich zu beruhigen. Es ist so etwas Jämmerliches in allen Beküm- mernissen dieser Sterblichkeit, daß der Gram schon von selbst verschwindet, wenn man ihn nur genauer ins Auge faßt. Sollt' ich jammern und klagen, weil nicht jeder meiner übereilten Wün- sche in Erfüllung geht? Da müßt' ich mein ganzes Leben verklagen und ich wäre ein Thor. Das Flehen der Sterblichen schlägt gegen die tauben Gewölbe des Himmels, weil alles sich in einem nichtigen schwindelnden Zirkeltanz dreht, nach Genüssen greift, die nur der Wiederschein von würklichen Gütern sind, und so jeder fühlt, wie ihm sein geträumtes Glück aus den Händen entschwindet. Wer aber vorher weiß, welche
2. William Lovell an ſeinen Freund Eduard Burton.
Rom.
Dein Brief, lieber Freund, der mich troͤſten, der mir den Zuſammenhang der Dinge im wah- ren Geſichtspunkte zeigen ſollte, iſt zu ſpaͤt ge- kommen. Ich war vielleicht ſchon ruhig, als Du die Feder anſetzteſt, um mich zu beruhigen. Es iſt ſo etwas Jaͤmmerliches in allen Bekuͤm- merniſſen dieſer Sterblichkeit, daß der Gram ſchon von ſelbſt verſchwindet, wenn man ihn nur genauer ins Auge faßt. Sollt’ ich jammern und klagen, weil nicht jeder meiner uͤbereilten Wuͤn- ſche in Erfuͤllung geht? Da muͤßt’ ich mein ganzes Leben verklagen und ich waͤre ein Thor. Das Flehen der Sterblichen ſchlaͤgt gegen die tauben Gewoͤlbe des Himmels, weil alles ſich in einem nichtigen ſchwindelnden Zirkeltanz dreht, nach Genuͤſſen greift, die nur der Wiederſchein von wuͤrklichen Guͤtern ſind, und ſo jeder fuͤhlt, wie ihm ſein getraͤumtes Gluͤck aus den Haͤnden entſchwindet. Wer aber vorher weiß, welche
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2.
William Lovell an ſeinen Freund
Eduard Burton.
Rom.
Dein Brief, lieber Freund, der mich troͤſten,
der mir den Zuſammenhang der Dinge im wah-
ren Geſichtspunkte zeigen ſollte, iſt zu ſpaͤt ge-
kommen. Ich war vielleicht ſchon ruhig, als
Du die Feder anſetzteſt, um mich zu beruhigen.
Es iſt ſo etwas Jaͤmmerliches in allen Bekuͤm-
merniſſen dieſer Sterblichkeit, daß der Gram
ſchon von ſelbſt verſchwindet, wenn man ihn nur
genauer ins Auge faßt. Sollt’ ich jammern und
klagen, weil nicht jeder meiner uͤbereilten Wuͤn-
ſche in Erfuͤllung geht? Da muͤßt’ ich mein
ganzes Leben verklagen und ich waͤre ein Thor.
Das Flehen der Sterblichen ſchlaͤgt gegen die
tauben Gewoͤlbe des Himmels, weil alles ſich in
einem nichtigen ſchwindelnden Zirkeltanz dreht,
nach Genuͤſſen greift, die nur der Wiederſchein
von wuͤrklichen Guͤtern ſind, und ſo jeder fuͤhlt,
wie ihm ſein getraͤumtes Gluͤck aus den Haͤnden
entſchwindet. Wer aber vorher weiß, welche
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/20>, abgerufen am 21.11.2024.
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