Ach, gnädiger Herr! Sie verzeihen es wohl einer alten Frau, wenn sie sich untersteht, Ih- nen zur Last zu fallen. -- Meine Tochter, die letzte Stütze meines Alters, ist todt; Gott mag ihrer Seele gnädig seyn! Sie ist in die Tiber gesprungen, gestern am Abend; vorher ist sie die ganze Stadt durchlaufen, und hat immer nach Ihnen gefragt. Auf der Brücke nach St. An- gelo stand sie endlich still, und sah in's Wasser, sie deutete auf den Mondschein, und sagte: sie wolle jetzt in das goldene Paradies; ein Mann, der dort stand, hat es ganz deutlich gehört: so stürzte sie sich vom Geländer hinunter. -- Man zog sie todt ans Land. -- Ach, lieber gnädiger Herr, nun bin ich ganz verlassen, erzeigen Sie mir doch die Ehre, mich noch einmal zu be- suchen, und eine arme, alte, verlaßne Frau et- was zu unterstützen. -- Verzeihen Sie meine Dreistigkeit, der Kummer hat mich ganz nieder- gebeugt. Gott sey Rosalinens Seele gnädig; ich bete fleißig einen Rosenkranz zu ihrem Heil.
Wil-
61. Leonore Silva an William Lovell.
Ach, gnaͤdiger Herr! Sie verzeihen es wohl einer alten Frau, wenn ſie ſich unterſteht, Ih- nen zur Laſt zu fallen. — Meine Tochter, die letzte Stuͤtze meines Alters, iſt todt; Gott mag ihrer Seele gnaͤdig ſeyn! Sie iſt in die Tiber geſprungen, geſtern am Abend; vorher iſt ſie die ganze Stadt durchlaufen, und hat immer nach Ihnen gefragt. Auf der Bruͤcke nach St. An- gelo ſtand ſie endlich ſtill, und ſah in’s Waſſer, ſie deutete auf den Mondſchein, und ſagte: ſie wolle jetzt in das goldene Paradies; ein Mann, der dort ſtand, hat es ganz deutlich gehoͤrt: ſo ſtuͤrzte ſie ſich vom Gelaͤnder hinunter. — Man zog ſie todt ans Land. — Ach, lieber gnaͤdiger Herr, nun bin ich ganz verlaſſen, erzeigen Sie mir doch die Ehre, mich noch einmal zu be- ſuchen, und eine arme, alte, verlaßne Frau et- was zu unterſtuͤtzen. — Verzeihen Sie meine Dreiſtigkeit, der Kummer hat mich ganz nieder- gebeugt. Gott ſey Roſalinens Seele gnaͤdig; ich bete fleißig einen Roſenkranz zu ihrem Heil.
Wil-
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61.
Leonore Silva an William Lovell.
Ach, gnaͤdiger Herr! Sie verzeihen es wohl
einer alten Frau, wenn ſie ſich unterſteht, Ih-
nen zur Laſt zu fallen. — Meine Tochter, die
letzte Stuͤtze meines Alters, iſt todt; Gott mag
ihrer Seele gnaͤdig ſeyn! Sie iſt in die Tiber
geſprungen, geſtern am Abend; vorher iſt ſie die
ganze Stadt durchlaufen, und hat immer nach
Ihnen gefragt. Auf der Bruͤcke nach St. An-
gelo ſtand ſie endlich ſtill, und ſah in’s Waſſer,
ſie deutete auf den Mondſchein, und ſagte: ſie
wolle jetzt in das goldene Paradies; ein Mann,
der dort ſtand, hat es ganz deutlich gehoͤrt: ſo
ſtuͤrzte ſie ſich vom Gelaͤnder hinunter. — Man
zog ſie todt ans Land. — Ach, lieber gnaͤdiger
Herr, nun bin ich ganz verlaſſen, erzeigen Sie
mir doch die Ehre, mich noch einmal zu be-
ſuchen, und eine arme, alte, verlaßne Frau et-
was zu unterſtuͤtzen. — Verzeihen Sie meine
Dreiſtigkeit, der Kummer hat mich ganz nieder-
gebeugt. Gott ſey Roſalinens Seele gnaͤdig; ich
bete fleißig einen Roſenkranz zu ihrem Heil.
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/214>, abgerufen am 23.11.2024.
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