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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796.

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und meinen Schatten für meinen Freund hielt,
und ihn liebte; sind wir denn alle nicht vor die-
ser Selbsttäuschung gesichert, daß wir unsere
Empfindungen in andre übertragen, und so uns
nur selbst aus ihnen herauslesen? -- Ich lege
Ihnen Lovells Brief bey; bis jetzt konnte ich
mir ihn bey jedem Briefe recht lebhaft vorstel-
len, ich sah im Geiste alle den jugendlichen
Leichtsinn, gepaart mit der Reue und einer in-
nern Langeweile, wie er dann von neuem noch
lauter in seine Harfe schlug, und mir noch poe-
tischer schrieb, um sich selbst zu betäuben; ich
sah jede Mine und Geberde, und nahm darum
nicht alles ganz so ernsthaft, wie es auf dem
Papiere stand. Aber plötzlich ist mir Lovell ganz
fremd geworden, er hat gleichsam die ganze Lar-
ve abgenommen, und erscheint nun in seiner na-
türlichen Gestalt: dieser Menschenhaß, diese Ver-
achtung seiner Selbst, die nur aus Bewußtseyn
der Verworfenheit entstehen kann, dies Geständ-
niß -- o sagen Sie, würden Sie für einen sol-
chen Menschen je einen freundschaftlichen Zug
empfinden können? Diesen Brief kann ich
unmöglich beantworten, denn ich würde keine
Worte finden können; und wozu auch die Ant-

und meinen Schatten fuͤr meinen Freund hielt,
und ihn liebte; ſind wir denn alle nicht vor die-
ſer Selbſttaͤuſchung geſichert, daß wir unſere
Empfindungen in andre uͤbertragen, und ſo uns
nur ſelbſt aus ihnen herausleſen? — Ich lege
Ihnen Lovells Brief bey; bis jetzt konnte ich
mir ihn bey jedem Briefe recht lebhaft vorſtel-
len, ich ſah im Geiſte alle den jugendlichen
Leichtſinn, gepaart mit der Reue und einer in-
nern Langeweile, wie er dann von neuem noch
lauter in ſeine Harfe ſchlug, und mir noch poe-
tiſcher ſchrieb, um ſich ſelbſt zu betaͤuben; ich
ſah jede Mine und Geberde, und nahm darum
nicht alles ganz ſo ernſthaft, wie es auf dem
Papiere ſtand. Aber ploͤtzlich iſt mir Lovell ganz
fremd geworden, er hat gleichſam die ganze Lar-
ve abgenommen, und erſcheint nun in ſeiner na-
tuͤrlichen Geſtalt: dieſer Menſchenhaß, dieſe Ver-
achtung ſeiner Selbſt, die nur aus Bewußtſeyn
der Verworfenheit entſtehen kann, dies Geſtaͤnd-
niß — o ſagen Sie, wuͤrden Sie fuͤr einen ſol-
chen Menſchen je einen freundſchaftlichen Zug
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unmoͤglich beantworten, denn ich wuͤrde keine
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[254/0260] und meinen Schatten fuͤr meinen Freund hielt, und ihn liebte; ſind wir denn alle nicht vor die- ſer Selbſttaͤuſchung geſichert, daß wir unſere Empfindungen in andre uͤbertragen, und ſo uns nur ſelbſt aus ihnen herausleſen? — Ich lege Ihnen Lovells Brief bey; bis jetzt konnte ich mir ihn bey jedem Briefe recht lebhaft vorſtel- len, ich ſah im Geiſte alle den jugendlichen Leichtſinn, gepaart mit der Reue und einer in- nern Langeweile, wie er dann von neuem noch lauter in ſeine Harfe ſchlug, und mir noch poe- tiſcher ſchrieb, um ſich ſelbſt zu betaͤuben; ich ſah jede Mine und Geberde, und nahm darum nicht alles ganz ſo ernſthaft, wie es auf dem Papiere ſtand. Aber ploͤtzlich iſt mir Lovell ganz fremd geworden, er hat gleichſam die ganze Lar- ve abgenommen, und erſcheint nun in ſeiner na- tuͤrlichen Geſtalt: dieſer Menſchenhaß, dieſe Ver- achtung ſeiner Selbſt, die nur aus Bewußtſeyn der Verworfenheit entſtehen kann, dies Geſtaͤnd- niß — o ſagen Sie, wuͤrden Sie fuͤr einen ſol- chen Menſchen je einen freundſchaftlichen Zug empfinden koͤnnen? Dieſen Brief kann ich unmoͤglich beantworten, denn ich wuͤrde keine Worte finden koͤnnen; und wozu auch die Ant-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 254. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/260>, abgerufen am 21.11.2024.