bekannten Gesichtern begegneten, als ich unsre Donna Bianka an ihrem Fenster sah. Die Einsamkeit, die engen Wände sind es, die uns verdrüßlich und melancholisch machen; mit der freieren Luft athmet der Mensch eine freiere Seele ein, und fühlt sich wie der Adler, der sich mit regerem Flügelschlag über die finstern Wolken hinaushebt. -- Ich komme jetzt eben von der schönen Bianka zurück, und mein Brief ist mir unverständlich. Ich bin oft dar- auf gefallen, daß man nur immer suchen sollte, recht viele Menschen und ihre Gemüthsart und Ansicht der Dinge kennen zu lernen, wir verlie- ren uns sonst gar zu leicht in klägliche Träume- reien: aber jedes neue Gesicht und jedes fremde Wort eröfnet uns die Augen über unsre Irrthümer. Ich kann oft einem ein- fältigen Menschen wie einem Orakel zuhö- ren, weil er mich durch seine Reden in einen ganz neuen Gesichtspunkt stellt, weil ich mich so in ihn hineindenken kann, und dabei zugleich meine eigene Gemüthsstimmung vergleiche, daß ich selbst in seinem einfältigsten Geschwätz einen tiefen gedankenreichen Sinn entdecke. Bei Wei- bern vorzüglich habe ich aus jedem gesproche-
bekannten Geſichtern begegneten, als ich unſre Donna Bianka an ihrem Fenſter ſah. Die Einſamkeit, die engen Waͤnde ſind es, die uns verdruͤßlich und melancholiſch machen; mit der freieren Luft athmet der Menſch eine freiere Seele ein, und fuͤhlt ſich wie der Adler, der ſich mit regerem Fluͤgelſchlag uͤber die finſtern Wolken hinaushebt. — Ich komme jetzt eben von der ſchoͤnen Bianka zuruͤck, und mein Brief iſt mir unverſtaͤndlich. Ich bin oft dar- auf gefallen, daß man nur immer ſuchen ſollte, recht viele Menſchen und ihre Gemuͤthsart und Anſicht der Dinge kennen zu lernen, wir verlie- ren uns ſonſt gar zu leicht in klaͤgliche Traͤume- reien: aber jedes neue Geſicht und jedes fremde Wort eroͤfnet uns die Augen uͤber unſre Irrthuͤmer. Ich kann oft einem ein- faͤltigen Menſchen wie einem Orakel zuhoͤ- ren, weil er mich durch ſeine Reden in einen ganz neuen Geſichtspunkt ſtellt, weil ich mich ſo in ihn hineindenken kann, und dabei zugleich meine eigene Gemuͤthsſtimmung vergleiche, daß ich ſelbſt in ſeinem einfaͤltigſten Geſchwaͤtz einen tiefen gedankenreichen Sinn entdecke. Bei Wei- bern vorzuͤglich habe ich aus jedem geſproche-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0031"n="25"/>
bekannten Geſichtern begegneten, als ich unſre<lb/>
Donna <hirendition="#g">Bianka</hi> an ihrem Fenſter ſah. Die<lb/>
Einſamkeit, die engen Waͤnde ſind es, die uns<lb/>
verdruͤßlich und melancholiſch machen; mit der<lb/>
freieren Luft athmet der Menſch eine freiere<lb/>
Seele ein, und fuͤhlt ſich wie der Adler, der<lb/>ſich mit regerem Fluͤgelſchlag uͤber die finſtern<lb/>
Wolken hinaushebt. — Ich komme jetzt eben<lb/>
von der ſchoͤnen <hirendition="#g">Bianka</hi> zuruͤck, und mein<lb/>
Brief iſt mir unverſtaͤndlich. Ich bin oft dar-<lb/>
auf gefallen, daß man nur immer ſuchen ſollte,<lb/>
recht viele Menſchen und ihre Gemuͤthsart und<lb/>
Anſicht der Dinge kennen zu lernen, wir verlie-<lb/>
ren uns ſonſt gar zu leicht in klaͤgliche Traͤume-<lb/>
reien: aber jedes neue Geſicht und jedes<lb/>
fremde Wort eroͤfnet uns die Augen uͤber<lb/>
unſre Irrthuͤmer. Ich kann oft einem ein-<lb/>
faͤltigen Menſchen wie einem Orakel zuhoͤ-<lb/>
ren, weil er mich durch ſeine Reden in einen<lb/>
ganz neuen Geſichtspunkt ſtellt, weil ich mich ſo<lb/>
in ihn hineindenken kann, und dabei zugleich<lb/>
meine eigene Gemuͤthsſtimmung vergleiche, daß<lb/>
ich ſelbſt in ſeinem einfaͤltigſten Geſchwaͤtz einen<lb/>
tiefen gedankenreichen Sinn entdecke. Bei Wei-<lb/>
bern vorzuͤglich habe ich aus jedem geſproche-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[25/0031]
bekannten Geſichtern begegneten, als ich unſre
Donna Bianka an ihrem Fenſter ſah. Die
Einſamkeit, die engen Waͤnde ſind es, die uns
verdruͤßlich und melancholiſch machen; mit der
freieren Luft athmet der Menſch eine freiere
Seele ein, und fuͤhlt ſich wie der Adler, der
ſich mit regerem Fluͤgelſchlag uͤber die finſtern
Wolken hinaushebt. — Ich komme jetzt eben
von der ſchoͤnen Bianka zuruͤck, und mein
Brief iſt mir unverſtaͤndlich. Ich bin oft dar-
auf gefallen, daß man nur immer ſuchen ſollte,
recht viele Menſchen und ihre Gemuͤthsart und
Anſicht der Dinge kennen zu lernen, wir verlie-
ren uns ſonſt gar zu leicht in klaͤgliche Traͤume-
reien: aber jedes neue Geſicht und jedes
fremde Wort eroͤfnet uns die Augen uͤber
unſre Irrthuͤmer. Ich kann oft einem ein-
faͤltigen Menſchen wie einem Orakel zuhoͤ-
ren, weil er mich durch ſeine Reden in einen
ganz neuen Geſichtspunkt ſtellt, weil ich mich ſo
in ihn hineindenken kann, und dabei zugleich
meine eigene Gemuͤthsſtimmung vergleiche, daß
ich ſelbſt in ſeinem einfaͤltigſten Geſchwaͤtz einen
tiefen gedankenreichen Sinn entdecke. Bei Wei-
bern vorzuͤglich habe ich aus jedem geſproche-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 2. Berlin u. a., 1796, S. 25. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell02_1796/31>, abgerufen am 09.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.