Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796.

Bild:
<< vorherige Seite

Leiden, die dem Herzen die verlohrne Mensch-
lichkeit wiedergeben.

Zeigen Sie Niemanden diesen Brief, liebste
Freundinn, denn er ist nur für Sie allein ge-
schrieben, jedes andre Auge würde ihn entwei-
hen und nur über meine Schwachheit spotten.
So wenige Menschen verstehen es, fröhlich zu
seyn, und noch weit weniger zu trauern, der
Schmerz redet sie in einer himmlischen Sprache
an und sie können nur mit ihren unbeholfenen,
irdischen Tönen antworten. Wer sich freuen
oder wer weinen will, ziehe sich ja zu Blumen
und zu Bäumen zurück.

Der Unbekannte redete sehr herzlich und
bald schien mir seine Sprache so bekannt. Es
kamen wunderbare Erinnerungen in meine See-
le; ich betrachtete ihn genauer und auch seine
Gesichtszüge schienen mir nun nicht mehr fremd.
-- O Amalie, welche Empfindung ergriff mich,
als ich in dem armen Verstoßenen, in dem kran-
ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund
von mir entdeckte, -- und wie er sich mir nun
selbst zu erkennen gab und viel von den Men-

Leiden, die dem Herzen die verlohrne Menſch-
lichkeit wiedergeben.

Zeigen Sie Niemanden dieſen Brief, liebſte
Freundinn, denn er iſt nur fuͤr Sie allein ge-
ſchrieben, jedes andre Auge wuͤrde ihn entwei-
hen und nur uͤber meine Schwachheit ſpotten.
So wenige Menſchen verſtehen es, froͤhlich zu
ſeyn, und noch weit weniger zu trauern, der
Schmerz redet ſie in einer himmliſchen Sprache
an und ſie koͤnnen nur mit ihren unbeholfenen,
irdiſchen Toͤnen antworten. Wer ſich freuen
oder wer weinen will, ziehe ſich ja zu Blumen
und zu Baͤumen zuruͤck.

Der Unbekannte redete ſehr herzlich und
bald ſchien mir ſeine Sprache ſo bekannt. Es
kamen wunderbare Erinnerungen in meine See-
le; ich betrachtete ihn genauer und auch ſeine
Geſichtszuͤge ſchienen mir nun nicht mehr fremd.
— O Amalie, welche Empfindung ergriff mich,
als ich in dem armen Verſtoßenen, in dem kran-
ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund
von mir entdeckte, — und wie er ſich mir nun
ſelbſt zu erkennen gab und viel von den Men-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0037" n="30"/>
Leiden, die dem Herzen die verlohrne Men&#x017F;ch-<lb/>
lichkeit wiedergeben.</p><lb/>
          <p>Zeigen Sie Niemanden die&#x017F;en Brief, lieb&#x017F;te<lb/>
Freundinn, denn er i&#x017F;t nur fu&#x0364;r Sie allein ge-<lb/>
&#x017F;chrieben, jedes andre Auge wu&#x0364;rde ihn entwei-<lb/>
hen und nur u&#x0364;ber meine Schwachheit &#x017F;potten.<lb/>
So wenige Men&#x017F;chen ver&#x017F;tehen es, fro&#x0364;hlich zu<lb/>
&#x017F;eyn, und noch weit weniger zu trauern, der<lb/>
Schmerz redet &#x017F;ie in einer himmli&#x017F;chen Sprache<lb/>
an und &#x017F;ie ko&#x0364;nnen nur mit ihren unbeholfenen,<lb/>
irdi&#x017F;chen To&#x0364;nen antworten. Wer &#x017F;ich freuen<lb/>
oder wer weinen will, ziehe &#x017F;ich ja zu Blumen<lb/>
und zu Ba&#x0364;umen zuru&#x0364;ck.</p><lb/>
          <p>Der Unbekannte redete &#x017F;ehr herzlich und<lb/>
bald &#x017F;chien mir &#x017F;eine Sprache &#x017F;o bekannt. Es<lb/>
kamen wunderbare Erinnerungen in meine See-<lb/>
le; ich betrachtete ihn genauer und auch &#x017F;eine<lb/>
Ge&#x017F;ichtszu&#x0364;ge &#x017F;chienen mir nun nicht mehr fremd.<lb/>
&#x2014; O Amalie, welche Empfindung ergriff mich,<lb/>
als ich in dem armen Ver&#x017F;toßenen, in dem kran-<lb/>
ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund<lb/>
von mir entdeckte, &#x2014; und wie er &#x017F;ich mir nun<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t zu erkennen gab und viel von den Men-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[30/0037] Leiden, die dem Herzen die verlohrne Menſch- lichkeit wiedergeben. Zeigen Sie Niemanden dieſen Brief, liebſte Freundinn, denn er iſt nur fuͤr Sie allein ge- ſchrieben, jedes andre Auge wuͤrde ihn entwei- hen und nur uͤber meine Schwachheit ſpotten. So wenige Menſchen verſtehen es, froͤhlich zu ſeyn, und noch weit weniger zu trauern, der Schmerz redet ſie in einer himmliſchen Sprache an und ſie koͤnnen nur mit ihren unbeholfenen, irdiſchen Toͤnen antworten. Wer ſich freuen oder wer weinen will, ziehe ſich ja zu Blumen und zu Baͤumen zuruͤck. Der Unbekannte redete ſehr herzlich und bald ſchien mir ſeine Sprache ſo bekannt. Es kamen wunderbare Erinnerungen in meine See- le; ich betrachtete ihn genauer und auch ſeine Geſichtszuͤge ſchienen mir nun nicht mehr fremd. — O Amalie, welche Empfindung ergriff mich, als ich in dem armen Verſtoßenen, in dem kran- ken Bettler einen alten, wohlbekannten Freund von mir entdeckte, — und wie er ſich mir nun ſelbſt zu erkennen gab und viel von den Men-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/37
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/37>, abgerufen am 03.12.2024.