seine Freuden zu verachten, sie kommen sich dadurch selbst als etwas Großes und Erhabenes vor, und dies ist die eigentliche Grundlage von dem, was die Menschen gut nennen. Be- grüßte uns nicht die Liebe am Eingange des Lebens, so würden sich alle Menschen ohne Mühe von ihren Vorurtheilen losmachen kön- nen, keiner würde sich um die Tugend küm- mern und keiner über den Verlust seiner jugend- lichen Gefühle Reue empfinden. Aber so wird uns ein Talisman mitgegeben, der uns be- herrscht, ohne daß wir es wissen.
Ich fühlte mich jetzt von der ganzen Welt losgerissen, ohne allen Zusammenhang mit ir- gend etwas, das in ihr war. Oft lag ich ganze Tage hindurch im Walde und weinte, mit unsichtbaren Wesen führte ich Gespräche und klagte ihnen mein Leid. Oft war es, als wenn die Natur und die rauschenden Bäume meinem Herzen plötzlich näher rückten, und ich streckte dann meine Arme aus, um sie mit einer unnennbaren Liebe zu umfangen, aber dann fiel es wieder vor meine Seele nieder, ich war in meinem Schmerze mit mir selber nicht befreun- det, und alles übrige erschien mir kalt und
ſeine Freuden zu verachten, ſie kommen ſich dadurch ſelbſt als etwas Großes und Erhabenes vor, und dies iſt die eigentliche Grundlage von dem, was die Menſchen gut nennen. Be- gruͤßte uns nicht die Liebe am Eingange des Lebens, ſo wuͤrden ſich alle Menſchen ohne Muͤhe von ihren Vorurtheilen losmachen koͤn- nen, keiner wuͤrde ſich um die Tugend kuͤm- mern und keiner uͤber den Verluſt ſeiner jugend- lichen Gefuͤhle Reue empfinden. Aber ſo wird uns ein Talisman mitgegeben, der uns be- herrſcht, ohne daß wir es wiſſen.
Ich fuͤhlte mich jetzt von der ganzen Welt losgeriſſen, ohne allen Zuſammenhang mit ir- gend etwas, das in ihr war. Oft lag ich ganze Tage hindurch im Walde und weinte, mit unſichtbaren Weſen fuͤhrte ich Geſpraͤche und klagte ihnen mein Leid. Oft war es, als wenn die Natur und die rauſchenden Baͤume meinem Herzen ploͤtzlich naͤher ruͤckten, und ich ſtreckte dann meine Arme aus, um ſie mit einer unnennbaren Liebe zu umfangen, aber dann fiel es wieder vor meine Seele nieder, ich war in meinem Schmerze mit mir ſelber nicht befreun- det, und alles uͤbrige erſchien mir kalt und
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ſeine Freuden zu verachten, ſie kommen ſich
dadurch ſelbſt als etwas Großes und Erhabenes
vor, und dies iſt die eigentliche Grundlage von
dem, was die Menſchen gut nennen. Be-
gruͤßte uns nicht die Liebe am Eingange des
Lebens, ſo wuͤrden ſich alle Menſchen ohne
Muͤhe von ihren Vorurtheilen losmachen koͤn-
nen, keiner wuͤrde ſich um die Tugend kuͤm-
mern und keiner uͤber den Verluſt ſeiner jugend-
lichen Gefuͤhle Reue empfinden. Aber ſo wird
uns ein Talisman mitgegeben, der uns be-
herrſcht, ohne daß wir es wiſſen.
Ich fuͤhlte mich jetzt von der ganzen Welt
losgeriſſen, ohne allen Zuſammenhang mit ir-
gend etwas, das in ihr war. Oft lag ich
ganze Tage hindurch im Walde und weinte,
mit unſichtbaren Weſen fuͤhrte ich Geſpraͤche
und klagte ihnen mein Leid. Oft war es, als
wenn die Natur und die rauſchenden Baͤume
meinem Herzen ploͤtzlich naͤher ruͤckten, und ich
ſtreckte dann meine Arme aus, um ſie mit einer
unnennbaren Liebe zu umfangen, aber dann fiel
es wieder vor meine Seele nieder, ich war in
meinem Schmerze mit mir ſelber nicht befreun-
det, und alles uͤbrige erſchien mir kalt und
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 413. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/420>, abgerufen am 22.11.2024.
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