einem kleinen nebenliegenden Garten eine Malve ab, und rief mit Verwundrung aus: die Malven blühen schon wieder! -- Dann hef- tete er die Blume auf seine Brust und sagte, daß ich nun sein Herz nicht verfehlen könne. --
Wir waren jetzt von der Landstraße ent- fernt genug. Wir maßen unsre Plätze; er nahm eine Pistole. Nachdem er sich noch eini- gemal umgesehn hatte, drückte er los und verfehlte mich: ich schoß, und die Blume und seine Brust waren zerschmettert. Er war schon todt, als ich hinzukam. -- Ich eilte nach Neapel.
Und jetzt bin ich mit mir unzufrieden. Es ist mir unbegreiflich, wie das rohe Ge- fühl der Rache mich so bezaubern konnte, daß er mich nicht rührte. Konnt' ich ihm nicht dies ärmliche Leben lassen, da er außer diesem vielleicht so nicht viel besessen hat? -- Was ist mir und Emilien nun damit geholfen, daß er die Luft nicht mehr einathmet? -- Jetzt ist es mir undenklich, wie ich so handeln konnte. -- Ach, welch ein armseeliges Geschöpf ist der Mensch! Was ist all sein Thun und Denken?
Adieu! -- Ich fahre von hier nach Ame-
einem kleinen nebenliegenden Garten eine Malve ab, und rief mit Verwundrung aus: die Malven bluͤhen ſchon wieder! — Dann hef- tete er die Blume auf ſeine Bruſt und ſagte, daß ich nun ſein Herz nicht verfehlen koͤnne. —
Wir waren jetzt von der Landſtraße ent- fernt genug. Wir maßen unſre Plaͤtze; er nahm eine Piſtole. Nachdem er ſich noch eini- gemal umgeſehn hatte, druͤckte er los und verfehlte mich: ich ſchoß, und die Blume und ſeine Bruſt waren zerſchmettert. Er war ſchon todt, als ich hinzukam. — Ich eilte nach Neapel.
Und jetzt bin ich mit mir unzufrieden. Es iſt mir unbegreiflich, wie das rohe Ge- fuͤhl der Rache mich ſo bezaubern konnte, daß er mich nicht ruͤhrte. Konnt' ich ihm nicht dies aͤrmliche Leben laſſen, da er außer dieſem vielleicht ſo nicht viel beſeſſen hat? — Was iſt mir und Emilien nun damit geholfen, daß er die Luft nicht mehr einathmet? — Jetzt iſt es mir undenklich, wie ich ſo handeln konnte. — Ach, welch ein armſeeliges Geſchoͤpf iſt der Menſch! Was iſt all ſein Thun und Denken?
Adieu! — Ich fahre von hier nach Ame-
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einem kleinen nebenliegenden Garten eine
Malve ab, und rief mit Verwundrung aus:
die Malven bluͤhen ſchon wieder! — Dann hef-
tete er die Blume auf ſeine Bruſt und ſagte,
daß ich nun ſein Herz nicht verfehlen koͤnne. —
Wir waren jetzt von der Landſtraße ent-
fernt genug. Wir maßen unſre Plaͤtze; er
nahm eine Piſtole. Nachdem er ſich noch eini-
gemal umgeſehn hatte, druͤckte er los und
verfehlte mich: ich ſchoß, und die Blume und
ſeine Bruſt waren zerſchmettert. Er war
ſchon todt, als ich hinzukam. — Ich eilte
nach Neapel.
Und jetzt bin ich mit mir unzufrieden.
Es iſt mir unbegreiflich, wie das rohe Ge-
fuͤhl der Rache mich ſo bezaubern konnte, daß
er mich nicht ruͤhrte. Konnt' ich ihm nicht
dies aͤrmliche Leben laſſen, da er außer dieſem
vielleicht ſo nicht viel beſeſſen hat? — Was
iſt mir und Emilien nun damit geholfen, daß
er die Luft nicht mehr einathmet? — Jetzt iſt
es mir undenklich, wie ich ſo handeln konnte.
— Ach, welch ein armſeeliges Geſchoͤpf iſt der
Menſch! Was iſt all ſein Thun und Denken?
Adieu! — Ich fahre von hier nach Ame-
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Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 475. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/482>, abgerufen am 04.12.2024.
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