mein Zimmer zurück und konnte mich gar nicht davon überzeugen, daß Willy gestorben sey.
Und was ist denn das Leben, und was ist es denn mehr, wenn einer von ihnen sich um einige Tage früher in die Erde legt? Rafft Krieg und Pest nicht Tausende hinweg? Wer- den nicht Tausende Schlachtopfer ihrer Leiden- schaften? Und wenn ich unversehends die Hand ausstrecke und plötzlich einer zu Boden stürzt, das sollte mich kümmern und mir Ruhe und Schlaf rauben? -- Man sollte gar nichts in der Welt ernsthaft nehmen. Eine schreckliche Seuche kömmt mir vor, wie ein ungeschickter Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu- ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man kann nur darüber lachen.
Am andern Tage kam Eduard auf mein Zimmer. O wie verhaßt war mir seine kalte, philosophische Mine, der mitleidige Blick, mit dem er mich von oben herab betrachtete! Wie zerreißen die Menschen unser Herz, die sich für edel und vollendet halten und nie etwas erfah- ren und gelitten haben! die in ihrer sichern Landheimath von den Wogen und Stürmen des Meers, von Schiffbruch und schrecklichen Ge-
mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.
Und was iſt denn das Leben, und was iſt es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer- den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden- ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt, das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu- ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man kann nur daruͤber lachen.
Am andern Tage kam Eduard auf mein Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte, philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit dem er mich von oben herab betrachtete! Wie zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr edel und vollendet halten und nie etwas erfah- ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0094"n="87"/>
mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht<lb/>
davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.</p><lb/><p>Und was iſt denn das Leben, und was iſt<lb/>
es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um<lb/>
einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft<lb/>
Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer-<lb/>
den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden-<lb/>ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand<lb/>
ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt,<lb/>
das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und<lb/>
Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in<lb/>
der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche<lb/>
Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter<lb/>
Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu-<lb/>
ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man<lb/>
kann nur daruͤber lachen.</p><lb/><p>Am andern Tage kam Eduard auf mein<lb/>
Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte,<lb/>
philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit<lb/>
dem er mich von oben herab betrachtete! Wie<lb/>
zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr<lb/>
edel und vollendet halten und nie etwas erfah-<lb/>
ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern<lb/>
Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des<lb/>
Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[87/0094]
mein Zimmer zuruͤck und konnte mich gar nicht
davon uͤberzeugen, daß Willy geſtorben ſey.
Und was iſt denn das Leben, und was iſt
es denn mehr, wenn einer von ihnen ſich um
einige Tage fruͤher in die Erde legt? Rafft
Krieg und Peſt nicht Tauſende hinweg? Wer-
den nicht Tauſende Schlachtopfer ihrer Leiden-
ſchaften? Und wenn ich unverſehends die Hand
ausſtrecke und ploͤtzlich einer zu Boden ſtuͤrzt,
das ſollte mich kuͤmmern und mir Ruhe und
Schlaf rauben? — Man ſollte gar nichts in
der Welt ernſthaft nehmen. Eine ſchreckliche
Seuche koͤmmt mir vor, wie ein ungeſchickter
Spieler, der unter dem Spiele die Schachfigu-
ren mit dem Ermel durcheinander wirft. Man
kann nur daruͤber lachen.
Am andern Tage kam Eduard auf mein
Zimmer. O wie verhaßt war mir ſeine kalte,
philoſophiſche Mine, der mitleidige Blick, mit
dem er mich von oben herab betrachtete! Wie
zerreißen die Menſchen unſer Herz, die ſich fuͤr
edel und vollendet halten und nie etwas erfah-
ren und gelitten haben! die in ihrer ſichern
Landheimath von den Wogen und Stuͤrmen des
Meers, von Schiffbruch und ſchrecklichen Ge-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tieck, Ludwig: William Lovell. Bd. 3. Berlin u. a., 1796, S. 87. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_lovell03_1796/94>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.