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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
(in der sich wohl, wie Manfred wähnt, alle
Urkraft des Wahren in uns ahndungsvoll mit
erregen mag) wenn alle unsre Anschauungen
und Erinnerungen in jenem wundersamen Stru-
del der Wonne auf eine Zeit untergehn, wel-
cher die Töne des Gelächters aus der Verbor-
genheit herauf erschallen läßt. Erregt ein wah-
rer Schauspieler diesen Zustand in uns, so ist
er uns ein hoch verehrtes Wesen, und so wenig
gesellt sich ein Gefühl der Verachtung zu unse-
rer Freude, daß wir im Gegentheil ihn als un-
sern Freund und Geliebten in unser innerstes
Herz schließen; der Dichter, der diesen Strom
der Lust in der Wüste aus dem Felsen schlägt,
erscheint uns wunderthätig. Ja, ich behaupte,
daß unsre Liebe, wenn sie einen Gegenstand
wahrhaft lieben soll, an diesem irgend einen
Schein des Lächerlichen finden muß, weil sie
ihn dadurch gleichsam erst besitzt; auch daß wir
keinen Freund oder keine Geliebte haben möch-
ten, über die wir in keinem Augenblick ihres
Daseins lachen oder lächeln könnten; der Held
eines Gedichts ist erst dann unsers Herzens ge-
wiß, wenn er uns einigemal ein stilles Lächeln
abgenöthigt hat, und dies ist ein Theil der Zau-
berkraft Homers und der Nibelungen Helden.
Sogar (und ich sage wohl nichts Widersinni-
ges, wenn ich diese Meinung ausspreche), sogar
den heiligsten und erhabensten Gegenständen ist
dieses Gefühl so wie das des Mitleidens nicht

I. [ 8 ]

Einleitung.
(in der ſich wohl, wie Manfred waͤhnt, alle
Urkraft des Wahren in uns ahndungsvoll mit
erregen mag) wenn alle unſre Anſchauungen
und Erinnerungen in jenem wunderſamen Stru-
del der Wonne auf eine Zeit untergehn, wel-
cher die Toͤne des Gelaͤchters aus der Verbor-
genheit herauf erſchallen laͤßt. Erregt ein wah-
rer Schauſpieler dieſen Zuſtand in uns, ſo iſt
er uns ein hoch verehrtes Weſen, und ſo wenig
geſellt ſich ein Gefuͤhl der Verachtung zu unſe-
rer Freude, daß wir im Gegentheil ihn als un-
ſern Freund und Geliebten in unſer innerſtes
Herz ſchließen; der Dichter, der dieſen Strom
der Luſt in der Wuͤſte aus dem Felſen ſchlaͤgt,
erſcheint uns wunderthaͤtig. Ja, ich behaupte,
daß unſre Liebe, wenn ſie einen Gegenſtand
wahrhaft lieben ſoll, an dieſem irgend einen
Schein des Laͤcherlichen finden muß, weil ſie
ihn dadurch gleichſam erſt beſitzt; auch daß wir
keinen Freund oder keine Geliebte haben moͤch-
ten, uͤber die wir in keinem Augenblick ihres
Daſeins lachen oder laͤcheln koͤnnten; der Held
eines Gedichts iſt erſt dann unſers Herzens ge-
wiß, wenn er uns einigemal ein ſtilles Laͤcheln
abgenoͤthigt hat, und dies iſt ein Theil der Zau-
berkraft Homers und der Nibelungen Helden.
Sogar (und ich ſage wohl nichts Widerſinni-
ges, wenn ich dieſe Meinung ausſpreche), ſogar
den heiligſten und erhabenſten Gegenſtaͤnden iſt
dieſes Gefuͤhl ſo wie das des Mitleidens nicht

I. [ 8 ]
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[113/0124] Einleitung. (in der ſich wohl, wie Manfred waͤhnt, alle Urkraft des Wahren in uns ahndungsvoll mit erregen mag) wenn alle unſre Anſchauungen und Erinnerungen in jenem wunderſamen Stru- del der Wonne auf eine Zeit untergehn, wel- cher die Toͤne des Gelaͤchters aus der Verbor- genheit herauf erſchallen laͤßt. Erregt ein wah- rer Schauſpieler dieſen Zuſtand in uns, ſo iſt er uns ein hoch verehrtes Weſen, und ſo wenig geſellt ſich ein Gefuͤhl der Verachtung zu unſe- rer Freude, daß wir im Gegentheil ihn als un- ſern Freund und Geliebten in unſer innerſtes Herz ſchließen; der Dichter, der dieſen Strom der Luſt in der Wuͤſte aus dem Felſen ſchlaͤgt, erſcheint uns wunderthaͤtig. Ja, ich behaupte, daß unſre Liebe, wenn ſie einen Gegenſtand wahrhaft lieben ſoll, an dieſem irgend einen Schein des Laͤcherlichen finden muß, weil ſie ihn dadurch gleichſam erſt beſitzt; auch daß wir keinen Freund oder keine Geliebte haben moͤch- ten, uͤber die wir in keinem Augenblick ihres Daſeins lachen oder laͤcheln koͤnnten; der Held eines Gedichts iſt erſt dann unſers Herzens ge- wiß, wenn er uns einigemal ein ſtilles Laͤcheln abgenoͤthigt hat, und dies iſt ein Theil der Zau- berkraft Homers und der Nibelungen Helden. Sogar (und ich ſage wohl nichts Widerſinni- ges, wenn ich dieſe Meinung ausſpreche), ſogar den heiligſten und erhabenſten Gegenſtaͤnden iſt dieſes Gefuͤhl ſo wie das des Mitleidens nicht I. [ 8 ]

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 113. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/124>, abgerufen am 21.11.2024.