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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Die Gesellschaft stand vom Tische auf und ging
in den Garten, um die Luft zu genießen, welche
am Morgen ein Gewitter lieblich abgekühlt hatte.
Nun, sagte Clara, sind Sie alle Ihres Verspre-
chens eingedenk gewesen? Wo sind die Mährchen?

Du bist sehr eilig, sagte Manfred, weißt du
doch nicht, ob sie dir wirklich Freude machen
werden.

Sie müssen, antwortete sie lachend, wenn
ich nicht auf die Autoren sehr ungehalten wer-
den soll.

Es ist schwer, sagte Anton, zu bestimmen,
worin denn ein Mährchen eigentlich bestehen und
welchen Ton es halten soll. Wir wissen nicht,
was es ist, und können auch nur wenige Rechen-
schaft darüber geben, wie es entstanden sein mag.
Wir finden es vor, jeder bearbeitet es auf eigne
Weise und denkt sich etwas anderes dabei, und
doch kommen fast alle in gewissen Dingen über-
ein, selbst die witzigen nicht ausgenommen, die
jenes Colorit nicht ganz entbehren können, jenen
wundersamen Ton, der in uns anschlägt, wenn


Die Geſellſchaft ſtand vom Tiſche auf und ging
in den Garten, um die Luft zu genießen, welche
am Morgen ein Gewitter lieblich abgekuͤhlt hatte.
Nun, ſagte Clara, ſind Sie alle Ihres Verſpre-
chens eingedenk geweſen? Wo ſind die Maͤhrchen?

Du biſt ſehr eilig, ſagte Manfred, weißt du
doch nicht, ob ſie dir wirklich Freude machen
werden.

Sie muͤſſen, antwortete ſie lachend, wenn
ich nicht auf die Autoren ſehr ungehalten wer-
den ſoll.

Es iſt ſchwer, ſagte Anton, zu beſtimmen,
worin denn ein Maͤhrchen eigentlich beſtehen und
welchen Ton es halten ſoll. Wir wiſſen nicht,
was es iſt, und koͤnnen auch nur wenige Rechen-
ſchaft daruͤber geben, wie es entſtanden ſein mag.
Wir finden es vor, jeder bearbeitet es auf eigne
Weiſe und denkt ſich etwas anderes dabei, und
doch kommen faſt alle in gewiſſen Dingen uͤber-
ein, ſelbſt die witzigen nicht ausgenommen, die
jenes Colorit nicht ganz entbehren koͤnnen, jenen
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[[137]/0148] Die Geſellſchaft ſtand vom Tiſche auf und ging in den Garten, um die Luft zu genießen, welche am Morgen ein Gewitter lieblich abgekuͤhlt hatte. Nun, ſagte Clara, ſind Sie alle Ihres Verſpre- chens eingedenk geweſen? Wo ſind die Maͤhrchen? Du biſt ſehr eilig, ſagte Manfred, weißt du doch nicht, ob ſie dir wirklich Freude machen werden. Sie muͤſſen, antwortete ſie lachend, wenn ich nicht auf die Autoren ſehr ungehalten wer- den ſoll. Es iſt ſchwer, ſagte Anton, zu beſtimmen, worin denn ein Maͤhrchen eigentlich beſtehen und welchen Ton es halten ſoll. Wir wiſſen nicht, was es iſt, und koͤnnen auch nur wenige Rechen- ſchaft daruͤber geben, wie es entſtanden ſein mag. Wir finden es vor, jeder bearbeitet es auf eigne Weiſe und denkt ſich etwas anderes dabei, und doch kommen faſt alle in gewiſſen Dingen uͤber- ein, ſelbſt die witzigen nicht ausgenommen, die jenes Colorit nicht ganz entbehren koͤnnen, jenen wunderſamen Ton, der in uns anſchlaͤgt, wenn

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. [137]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/148>, abgerufen am 21.11.2024.