Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
Ariost nicht anders wünschen, als er nun ein-
mal ist, die Reise nach dem Monde und den
Evangelisten Johannes ausgenommen, denn beide
sind für diese so kühne Fiktion etwas zu matt
ausgefallen.

Ueber diesen Dichter, sagte Anton, dürfte
sich ein langer Streit entspinnen, der sich nur
schwer beilegen ließe; sein Werk besteht, strenge
genommen, nur aus Novellen, von denen er
die längsten an verschiedenen Stellen mit schein-
barer Kunst durchschnitten hat, dasjenige, was
alle verbindet, ist ein gleichförmiger Ton liebli-
chen Wohllauts; ich möchte also ebenfalls be-
haupten, daß sein Gedicht eigentlich weder An-
fang, Mitte noch Ende hat, so wie ich davon
fest überzeugt bin, daß nur wenige Verehrer,
selbst in Italien, ihn oftmals von Anfang zu
Ende durchgelesen haben, so sehr auch alle mit
den einzelnen berühmten und anlockenden Stel-
len vertraut sind.

Es giebt, sagte Lothar, eine Gattung der
Poesie, welche ich, ohne damit ihrer Vortreff-
lichkeit zu nahe treten zu wollen, die bequeme
oder erfreuliche nennen möchte, und in dieser
stelle ich den Ariost oben an. Sehn wir auf
großer Ebene den hohen weit ausgespannten
blauen Himmel über uns, so erschreckt und er-
müdet in seiner Reinheit dieser Anblick, doch
wenn Wölkchen mit verschiedenen Lichtern in
diesem blauen Kristalle schwimmen, wenn die

Erſte Abtheilung.
Arioſt nicht anders wuͤnſchen, als er nun ein-
mal iſt, die Reiſe nach dem Monde und den
Evangeliſten Johannes ausgenommen, denn beide
ſind fuͤr dieſe ſo kuͤhne Fiktion etwas zu matt
ausgefallen.

Ueber dieſen Dichter, ſagte Anton, duͤrfte
ſich ein langer Streit entſpinnen, der ſich nur
ſchwer beilegen ließe; ſein Werk beſteht, ſtrenge
genommen, nur aus Novellen, von denen er
die laͤngſten an verſchiedenen Stellen mit ſchein-
barer Kunſt durchſchnitten hat, dasjenige, was
alle verbindet, iſt ein gleichfoͤrmiger Ton liebli-
chen Wohllauts; ich moͤchte alſo ebenfalls be-
haupten, daß ſein Gedicht eigentlich weder An-
fang, Mitte noch Ende hat, ſo wie ich davon
feſt uͤberzeugt bin, daß nur wenige Verehrer,
ſelbſt in Italien, ihn oftmals von Anfang zu
Ende durchgeleſen haben, ſo ſehr auch alle mit
den einzelnen beruͤhmten und anlockenden Stel-
len vertraut ſind.

Es giebt, ſagte Lothar, eine Gattung der
Poeſie, welche ich, ohne damit ihrer Vortreff-
lichkeit zu nahe treten zu wollen, die bequeme
oder erfreuliche nennen moͤchte, und in dieſer
ſtelle ich den Arioſt oben an. Sehn wir auf
großer Ebene den hohen weit ausgeſpannten
blauen Himmel uͤber uns, ſo erſchreckt und er-
muͤdet in ſeiner Reinheit dieſer Anblick, doch
wenn Woͤlkchen mit verſchiedenen Lichtern in
dieſem blauen Kriſtalle ſchwimmen, wenn die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0151" n="140"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
Ario&#x017F;t nicht anders wu&#x0364;n&#x017F;chen, als er nun ein-<lb/>
mal i&#x017F;t, die Rei&#x017F;e nach dem Monde und den<lb/>
Evangeli&#x017F;ten Johannes ausgenommen, denn beide<lb/>
&#x017F;ind fu&#x0364;r die&#x017F;e &#x017F;o ku&#x0364;hne Fiktion etwas zu matt<lb/>
ausgefallen.</p><lb/>
        <p>Ueber die&#x017F;en Dichter, &#x017F;agte Anton, du&#x0364;rfte<lb/>
&#x017F;ich ein langer Streit ent&#x017F;pinnen, der &#x017F;ich nur<lb/>
&#x017F;chwer beilegen ließe; &#x017F;ein Werk be&#x017F;teht, &#x017F;trenge<lb/>
genommen, nur aus Novellen, von denen er<lb/>
die la&#x0364;ng&#x017F;ten an ver&#x017F;chiedenen Stellen mit &#x017F;chein-<lb/>
barer Kun&#x017F;t durch&#x017F;chnitten hat, dasjenige, was<lb/>
alle verbindet, i&#x017F;t ein gleichfo&#x0364;rmiger Ton liebli-<lb/>
chen Wohllauts; ich mo&#x0364;chte al&#x017F;o ebenfalls be-<lb/>
haupten, daß &#x017F;ein Gedicht eigentlich weder An-<lb/>
fang, Mitte noch Ende hat, &#x017F;o wie ich davon<lb/>
fe&#x017F;t u&#x0364;berzeugt bin, daß nur wenige Verehrer,<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t in Italien, ihn oftmals von Anfang zu<lb/>
Ende durchgele&#x017F;en haben, &#x017F;o &#x017F;ehr auch alle mit<lb/>
den einzelnen beru&#x0364;hmten und anlockenden Stel-<lb/>
len vertraut &#x017F;ind.</p><lb/>
        <p>Es giebt, &#x017F;agte Lothar, eine Gattung der<lb/>
Poe&#x017F;ie, welche ich, ohne damit ihrer Vortreff-<lb/>
lichkeit zu nahe treten zu wollen, die bequeme<lb/>
oder erfreuliche nennen mo&#x0364;chte, und in die&#x017F;er<lb/>
&#x017F;telle ich den Ario&#x017F;t oben an. Sehn wir auf<lb/>
großer Ebene den hohen weit ausge&#x017F;pannten<lb/>
blauen Himmel u&#x0364;ber uns, &#x017F;o er&#x017F;chreckt und er-<lb/>
mu&#x0364;det in &#x017F;einer Reinheit die&#x017F;er Anblick, doch<lb/>
wenn Wo&#x0364;lkchen mit ver&#x017F;chiedenen Lichtern in<lb/>
die&#x017F;em blauen Kri&#x017F;talle &#x017F;chwimmen, wenn die<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[140/0151] Erſte Abtheilung. Arioſt nicht anders wuͤnſchen, als er nun ein- mal iſt, die Reiſe nach dem Monde und den Evangeliſten Johannes ausgenommen, denn beide ſind fuͤr dieſe ſo kuͤhne Fiktion etwas zu matt ausgefallen. Ueber dieſen Dichter, ſagte Anton, duͤrfte ſich ein langer Streit entſpinnen, der ſich nur ſchwer beilegen ließe; ſein Werk beſteht, ſtrenge genommen, nur aus Novellen, von denen er die laͤngſten an verſchiedenen Stellen mit ſchein- barer Kunſt durchſchnitten hat, dasjenige, was alle verbindet, iſt ein gleichfoͤrmiger Ton liebli- chen Wohllauts; ich moͤchte alſo ebenfalls be- haupten, daß ſein Gedicht eigentlich weder An- fang, Mitte noch Ende hat, ſo wie ich davon feſt uͤberzeugt bin, daß nur wenige Verehrer, ſelbſt in Italien, ihn oftmals von Anfang zu Ende durchgeleſen haben, ſo ſehr auch alle mit den einzelnen beruͤhmten und anlockenden Stel- len vertraut ſind. Es giebt, ſagte Lothar, eine Gattung der Poeſie, welche ich, ohne damit ihrer Vortreff- lichkeit zu nahe treten zu wollen, die bequeme oder erfreuliche nennen moͤchte, und in dieſer ſtelle ich den Arioſt oben an. Sehn wir auf großer Ebene den hohen weit ausgeſpannten blauen Himmel uͤber uns, ſo erſchreckt und er- muͤdet in ſeiner Reinheit dieſer Anblick, doch wenn Woͤlkchen mit verſchiedenen Lichtern in dieſem blauen Kriſtalle ſchwimmen, wenn die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/151
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/151>, abgerufen am 21.11.2024.