Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. ken, unserm Gemüth vorüber, sondern es machtEpoche in unserm Leben, wir brauchen lange Zeit, um uns von solcher Entzückung wieder zu erholen, und viele Jahre zehren noch von die- sen erhabenen Minuten. Aber nur Stille und Einsamkeit vergönnen diese Gaben; eine Gesell- schaft, die sich zu dergleichen auf einem Berge versammelt, steht nur vor dem Theater, und bringt auch gewöhnlich dieselbe alberne Freude und leere Kritik wie dort mit herunter. Noch seltsamer, sagte Ernst, daß so wenige -- wenn es hin zur Flut euch lockt, -- -- zum grausen Wipfel jenes Felsen, Der in die See nicht über seinen Fuß, -- Der Ort an sich bringt Grillen der Verzweiflung Auch ohne weitern Grund in jedes Hirn, Der so viel Klafter niederschaut zur See, Und hört sie unten brüllen; sondern selbst die schönste Gegend hat Gespen- Erſte Abtheilung. ken, unſerm Gemuͤth voruͤber, ſondern es machtEpoche in unſerm Leben, wir brauchen lange Zeit, um uns von ſolcher Entzuͤckung wieder zu erholen, und viele Jahre zehren noch von die- ſen erhabenen Minuten. Aber nur Stille und Einſamkeit vergoͤnnen dieſe Gaben; eine Geſell- ſchaft, die ſich zu dergleichen auf einem Berge verſammelt, ſteht nur vor dem Theater, und bringt auch gewoͤhnlich dieſelbe alberne Freude und leere Kritik wie dort mit herunter. Noch ſeltſamer, ſagte Ernſt, daß ſo wenige — wenn es hin zur Flut euch lockt, — — zum grauſen Wipfel jenes Felſen, Der in die See nicht uͤber ſeinen Fuß, — Der Ort an ſich bringt Grillen der Verzweiflung Auch ohne weitern Grund in jedes Hirn, Der ſo viel Klafter niederſchaut zur See, Und hoͤrt ſie unten bruͤllen; ſondern ſelbſt die ſchoͤnſte Gegend hat Geſpen- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <p><pb facs="#f0159" n="148"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/> ken, unſerm Gemuͤth voruͤber, ſondern es macht<lb/> Epoche in unſerm Leben, wir brauchen lange<lb/> Zeit, um uns von ſolcher Entzuͤckung wieder zu<lb/> erholen, und viele Jahre zehren noch von die-<lb/> ſen erhabenen Minuten. Aber nur Stille und<lb/> Einſamkeit vergoͤnnen dieſe Gaben; eine Geſell-<lb/> ſchaft, die ſich zu dergleichen auf einem Berge<lb/> verſammelt, ſteht nur vor dem Theater, und<lb/> bringt auch gewoͤhnlich dieſelbe alberne Freude<lb/> und leere Kritik wie dort mit herunter.</p><lb/> <p>Noch ſeltſamer, ſagte Ernſt, daß ſo wenige<lb/> Menſchen den wundervollen Schauer, die Be-<lb/> aͤngſtigung empfinden, oder ſich geſtehn, die in<lb/> manchen Stunden die Natur unſerm Herzen<lb/> erregt. Nicht bloß auf den ausgeſtorbenen Hoͤ-<lb/> hen des Gotthard erregt ſich unſer Gemuͤth<lb/> zum Grauen, nicht bloß</p><lb/> <lg type="poem"> <l>— wenn es hin zur Flut euch lockt, —</l><lb/> <l>— zum grauſen Wipfel jenes Felſen,</l><lb/> <l>Der in die See nicht uͤber ſeinen Fuß, —</l><lb/> <l>Der Ort an ſich bringt Grillen der Verzweiflung</l><lb/> <l>Auch ohne weitern Grund in jedes Hirn,</l><lb/> <l>Der ſo viel Klafter niederſchaut zur See,</l><lb/> <l>Und hoͤrt ſie unten bruͤllen;</l> </lg><lb/> <p>ſondern ſelbſt die ſchoͤnſte Gegend hat Geſpen-<lb/> ſter, die durch unſer Herz ſchreiten, ſie kann ſo<lb/> ſeltſame Ahndungen, ſo verwirrte Schatten durch<lb/> unſre Phantaſie jagen, daß wir ihr entfliehen,<lb/> und uns in das Getuͤmmel der Welt hinein ret-<lb/> ten moͤchten. Auf dieſe Weiſe entſtehn nun wohl<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [148/0159]
Erſte Abtheilung.
ken, unſerm Gemuͤth voruͤber, ſondern es macht
Epoche in unſerm Leben, wir brauchen lange
Zeit, um uns von ſolcher Entzuͤckung wieder zu
erholen, und viele Jahre zehren noch von die-
ſen erhabenen Minuten. Aber nur Stille und
Einſamkeit vergoͤnnen dieſe Gaben; eine Geſell-
ſchaft, die ſich zu dergleichen auf einem Berge
verſammelt, ſteht nur vor dem Theater, und
bringt auch gewoͤhnlich dieſelbe alberne Freude
und leere Kritik wie dort mit herunter.
Noch ſeltſamer, ſagte Ernſt, daß ſo wenige
Menſchen den wundervollen Schauer, die Be-
aͤngſtigung empfinden, oder ſich geſtehn, die in
manchen Stunden die Natur unſerm Herzen
erregt. Nicht bloß auf den ausgeſtorbenen Hoͤ-
hen des Gotthard erregt ſich unſer Gemuͤth
zum Grauen, nicht bloß
— wenn es hin zur Flut euch lockt, —
— zum grauſen Wipfel jenes Felſen,
Der in die See nicht uͤber ſeinen Fuß, —
Der Ort an ſich bringt Grillen der Verzweiflung
Auch ohne weitern Grund in jedes Hirn,
Der ſo viel Klafter niederſchaut zur See,
Und hoͤrt ſie unten bruͤllen;
ſondern ſelbſt die ſchoͤnſte Gegend hat Geſpen-
ſter, die durch unſer Herz ſchreiten, ſie kann ſo
ſeltſame Ahndungen, ſo verwirrte Schatten durch
unſre Phantaſie jagen, daß wir ihr entfliehen,
und uns in das Getuͤmmel der Welt hinein ret-
ten moͤchten. Auf dieſe Weiſe entſtehn nun wohl
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |