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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Einleitung.
wem es vergönnt ist, in erster Jugend, wenn
Herz und Sinn noch unbefangen sind, eine große
Reise durch schöne Länder zu machen, dann tritt
ihm alles so natürlich und wahr, so vertraut
wie Geschwister, entgegen, er bemerkt und lernt,
ohne es zu wissen, seine stille Begeisterung um-
fängt alles mit Liebe, und durchdringt mit freund-
lichem Ernst alle Wesen: einem solchen Sinn er-
hält die Heimath nachher den Reitz des Frem-
den, er versteht nun einheimisch zu sein, das
Ferne und Nahe wird ihm eins, und in der
Vergleichung mannigfaltiger Gegenstände wird
ihm ein Sinn für Richtigkeit. So war es wohl
gemeint, wenn man sonst junge Edelleute nach
Vollendung ihrer Studien reisen ließ. Der
Mensch versteht wahrhaft erst das Nahe und
Einheimische, wenn ihm das Fremde nicht mehr
fremd ist.

An diese Reisenden schließe ich mich noch
am ersten, sagte Theodor, wenn du mir auch
unaufhörlich vorwirfst, daß ich meine Reisen,
wie das Leben selbst, zu leichtsinnig nehme. Frei-
lich ist wohl in meiner Sucht nach der Fremde
zu viel Widerwille gegen die gewohnte Umgebung,
und sehr oft ist es mir mehr um den Wechsel der
Gegenstände, als um irgend eine Belehrung zu
thun.

Die zweite und vielleicht noch schönere Art
zu reisen, fuhr Ernst fort, ist jene, wenn die
Reise selbst sich in eine andächtige Wallfahrt

Einleitung.
wem es vergoͤnnt iſt, in erſter Jugend, wenn
Herz und Sinn noch unbefangen ſind, eine große
Reiſe durch ſchoͤne Laͤnder zu machen, dann tritt
ihm alles ſo natuͤrlich und wahr, ſo vertraut
wie Geſchwiſter, entgegen, er bemerkt und lernt,
ohne es zu wiſſen, ſeine ſtille Begeiſterung um-
faͤngt alles mit Liebe, und durchdringt mit freund-
lichem Ernſt alle Weſen: einem ſolchen Sinn er-
haͤlt die Heimath nachher den Reitz des Frem-
den, er verſteht nun einheimiſch zu ſein, das
Ferne und Nahe wird ihm eins, und in der
Vergleichung mannigfaltiger Gegenſtaͤnde wird
ihm ein Sinn fuͤr Richtigkeit. So war es wohl
gemeint, wenn man ſonſt junge Edelleute nach
Vollendung ihrer Studien reiſen ließ. Der
Menſch verſteht wahrhaft erſt das Nahe und
Einheimiſche, wenn ihm das Fremde nicht mehr
fremd iſt.

An dieſe Reiſenden ſchließe ich mich noch
am erſten, ſagte Theodor, wenn du mir auch
unaufhoͤrlich vorwirfſt, daß ich meine Reiſen,
wie das Leben ſelbſt, zu leichtſinnig nehme. Frei-
lich iſt wohl in meiner Sucht nach der Fremde
zu viel Widerwille gegen die gewohnte Umgebung,
und ſehr oft iſt es mir mehr um den Wechſel der
Gegenſtaͤnde, als um irgend eine Belehrung zu
thun.

Die zweite und vielleicht noch ſchoͤnere Art
zu reiſen, fuhr Ernſt fort, iſt jene, wenn die
Reiſe ſelbſt ſich in eine andaͤchtige Wallfahrt

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[6/0017] Einleitung. wem es vergoͤnnt iſt, in erſter Jugend, wenn Herz und Sinn noch unbefangen ſind, eine große Reiſe durch ſchoͤne Laͤnder zu machen, dann tritt ihm alles ſo natuͤrlich und wahr, ſo vertraut wie Geſchwiſter, entgegen, er bemerkt und lernt, ohne es zu wiſſen, ſeine ſtille Begeiſterung um- faͤngt alles mit Liebe, und durchdringt mit freund- lichem Ernſt alle Weſen: einem ſolchen Sinn er- haͤlt die Heimath nachher den Reitz des Frem- den, er verſteht nun einheimiſch zu ſein, das Ferne und Nahe wird ihm eins, und in der Vergleichung mannigfaltiger Gegenſtaͤnde wird ihm ein Sinn fuͤr Richtigkeit. So war es wohl gemeint, wenn man ſonſt junge Edelleute nach Vollendung ihrer Studien reiſen ließ. Der Menſch verſteht wahrhaft erſt das Nahe und Einheimiſche, wenn ihm das Fremde nicht mehr fremd iſt. An dieſe Reiſenden ſchließe ich mich noch am erſten, ſagte Theodor, wenn du mir auch unaufhoͤrlich vorwirfſt, daß ich meine Reiſen, wie das Leben ſelbſt, zu leichtſinnig nehme. Frei- lich iſt wohl in meiner Sucht nach der Fremde zu viel Widerwille gegen die gewohnte Umgebung, und ſehr oft iſt es mir mehr um den Wechſel der Gegenſtaͤnde, als um irgend eine Belehrung zu thun. Die zweite und vielleicht noch ſchoͤnere Art zu reiſen, fuhr Ernſt fort, iſt jene, wenn die Reiſe ſelbſt ſich in eine andaͤchtige Wallfahrt

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/17>, abgerufen am 21.11.2024.