Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Erste Abtheilung. sprach der alte Gärtner; seit ich lebe habe ich mirgewünscht, sie einmal sehen zu können, aber nie- mals ist es mir so gut geworden, weil sie sehr selten ist, und nur in Gebirgen wächst: ich machte mich auf dich zu suchen, weil deine Mutter gestor- ben ist und mir zu Hause die Einsamkeit zu drü- ckend und trübselig war. Ich wußte nicht, wohin ich meinen Weg richten sollte, endlich wanderte ich durch das Gebirge, so traurig mir auch die Reise vorkam; ich suchte beiher nach der Blume, konnte sie aber nirgends entdecken, und nun finde ich sie ganz unvermuthet hier, wo schon die schöne Ebene sich ausstreckt, daraus wußte ich, daß ich dich bald finden mußte, und sieh, wie die liebe Blume mir geweissagt hat! Sie umarmten sich wieder, und Christian beweinte seine Mutter; der Alte aber faßte seine Hand und sagte: laß uns gehen, daß wir die Schatten des Gebirges bald aus den Au- gen verlieren, mir ist immer noch weh ums Herz von den steilen wilden Gestalten, von dem gräßli- chen Geklüft, von den schluchzenden Wasserbächen; laß uns das gute, fromme, ebene Land besuchen. Sie wanderten zurück, und Christian ward Erſte Abtheilung. ſprach der alte Gaͤrtner; ſeit ich lebe habe ich mirgewuͤnſcht, ſie einmal ſehen zu koͤnnen, aber nie- mals iſt es mir ſo gut geworden, weil ſie ſehr ſelten iſt, und nur in Gebirgen waͤchſt: ich machte mich auf dich zu ſuchen, weil deine Mutter geſtor- ben iſt und mir zu Hauſe die Einſamkeit zu druͤ- ckend und truͤbſelig war. Ich wußte nicht, wohin ich meinen Weg richten ſollte, endlich wanderte ich durch das Gebirge, ſo traurig mir auch die Reiſe vorkam; ich ſuchte beiher nach der Blume, konnte ſie aber nirgends entdecken, und nun finde ich ſie ganz unvermuthet hier, wo ſchon die ſchoͤne Ebene ſich ausſtreckt, daraus wußte ich, daß ich dich bald finden mußte, und ſieh, wie die liebe Blume mir geweiſſagt hat! Sie umarmten ſich wieder, und Chriſtian beweinte ſeine Mutter; der Alte aber faßte ſeine Hand und ſagte: laß uns gehen, daß wir die Schatten des Gebirges bald aus den Au- gen verlieren, mir iſt immer noch weh ums Herz von den ſteilen wilden Geſtalten, von dem graͤßli- chen Gekluͤft, von den ſchluchzenden Waſſerbaͤchen; laß uns das gute, fromme, ebene Land beſuchen. Sie wanderten zuruͤck, und Chriſtian ward <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0269" n="258"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Erſte Abtheilung</hi>.</fw><lb/> ſprach der alte Gaͤrtner; ſeit ich lebe habe ich mir<lb/> gewuͤnſcht, ſie einmal ſehen zu koͤnnen, aber nie-<lb/> mals iſt es mir ſo gut geworden, weil ſie ſehr<lb/> ſelten iſt, und nur in Gebirgen waͤchſt: ich machte<lb/> mich auf dich zu ſuchen, weil deine Mutter geſtor-<lb/> ben iſt und mir zu Hauſe die Einſamkeit zu druͤ-<lb/> ckend und truͤbſelig war. Ich wußte nicht, wohin<lb/> ich meinen Weg richten ſollte, endlich wanderte ich<lb/> durch das Gebirge, ſo traurig mir auch die Reiſe<lb/> vorkam; ich ſuchte beiher nach der Blume, konnte<lb/> ſie aber nirgends entdecken, und nun finde ich ſie<lb/> ganz unvermuthet hier, wo ſchon die ſchoͤne Ebene<lb/> ſich ausſtreckt, daraus wußte ich, daß ich dich bald<lb/> finden mußte, und ſieh, wie die liebe Blume mir<lb/> geweiſſagt hat! Sie umarmten ſich wieder, und<lb/> Chriſtian beweinte ſeine Mutter; der Alte aber<lb/> faßte ſeine Hand und ſagte: laß uns gehen, daß<lb/> wir die Schatten des Gebirges bald aus den Au-<lb/> gen verlieren, mir iſt immer noch weh ums Herz<lb/> von den ſteilen wilden Geſtalten, von dem graͤßli-<lb/> chen Gekluͤft, von den ſchluchzenden Waſſerbaͤchen;<lb/> laß uns das gute, fromme, ebene Land beſuchen.</p><lb/> <p>Sie wanderten zuruͤck, und Chriſtian ward<lb/> wieder froher. Er erzaͤhlte ſeinem Vater von ſeinem<lb/> neuen Gluͤcke, von ſeinem Kinde und ſeiner Hei-<lb/> math; ſein Geſpraͤch machte ihn ſelbſt wie trun-<lb/> ken, und er fuͤhlte im Reden erſt recht, wie nichts<lb/> mehr zu ſeiner Zufriedenheit ermangle. So kamen<lb/> ſie unter Erzaͤhlungen, traurigen und froͤhlichen,<lb/> in dem Dorfe an. Alle waren uͤber die fruͤhe Be-<lb/> endigung der Reiſe vergnuͤgt, am meiſten Eliſa-<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [258/0269]
Erſte Abtheilung.
ſprach der alte Gaͤrtner; ſeit ich lebe habe ich mir
gewuͤnſcht, ſie einmal ſehen zu koͤnnen, aber nie-
mals iſt es mir ſo gut geworden, weil ſie ſehr
ſelten iſt, und nur in Gebirgen waͤchſt: ich machte
mich auf dich zu ſuchen, weil deine Mutter geſtor-
ben iſt und mir zu Hauſe die Einſamkeit zu druͤ-
ckend und truͤbſelig war. Ich wußte nicht, wohin
ich meinen Weg richten ſollte, endlich wanderte ich
durch das Gebirge, ſo traurig mir auch die Reiſe
vorkam; ich ſuchte beiher nach der Blume, konnte
ſie aber nirgends entdecken, und nun finde ich ſie
ganz unvermuthet hier, wo ſchon die ſchoͤne Ebene
ſich ausſtreckt, daraus wußte ich, daß ich dich bald
finden mußte, und ſieh, wie die liebe Blume mir
geweiſſagt hat! Sie umarmten ſich wieder, und
Chriſtian beweinte ſeine Mutter; der Alte aber
faßte ſeine Hand und ſagte: laß uns gehen, daß
wir die Schatten des Gebirges bald aus den Au-
gen verlieren, mir iſt immer noch weh ums Herz
von den ſteilen wilden Geſtalten, von dem graͤßli-
chen Gekluͤft, von den ſchluchzenden Waſſerbaͤchen;
laß uns das gute, fromme, ebene Land beſuchen.
Sie wanderten zuruͤck, und Chriſtian ward
wieder froher. Er erzaͤhlte ſeinem Vater von ſeinem
neuen Gluͤcke, von ſeinem Kinde und ſeiner Hei-
math; ſein Geſpraͤch machte ihn ſelbſt wie trun-
ken, und er fuͤhlte im Reden erſt recht, wie nichts
mehr zu ſeiner Zufriedenheit ermangle. So kamen
ſie unter Erzaͤhlungen, traurigen und froͤhlichen,
in dem Dorfe an. Alle waren uͤber die fruͤhe Be-
endigung der Reiſe vergnuͤgt, am meiſten Eliſa-
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