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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
Freunde, zerfallen, weil dieser ihn zu zerstreuen
suchte, und nicht jeder seiner finstern Launen nach-
geben wollte. Im Grunde war seine übertriebene
Reizbarkeit und Verstimmung wohl Krankheit, die
sich in seinem Körper zubereitete; denn, wie euch
nicht unbekannt ist, wurde er vor vier Monaten
vom heftigsten Nervenfieber befallen, so, daß wir
ihn alle schon aufgeben mußten. Nachdem seine
Phantasien ausgeraset hatten, und er wieder zu
sich kam, hatte er sein Gedächtniß fast ganz einge-
büßt, nur seine früheren Kinder- und Jugendjahre
waren ihm gegenwärtig, und er konnte sich durch-
aus nicht erinnern, was während seiner Reise oder
vor seiner Krankheit sich mit ihm zugetragen habe.
Er mußte alle seine Freunde, selbst den Roderich,
von neuem kennen lernen; nur nach und nach ward
es lichter in seinem Innern, und die Vergangen-
heit und was ihm widerfahren trat wieder, jedoch
immer nur schwach beleuchtet, in sein Gedächtniß
zurück. Sein Oheim hatte ihn zu sich in das
Haus genommen, um ihn besser zu verpflegen, und
er war wie ein Kind, und ließ alles mit sich ma-
chen. Als er zum erstenmal ausfuhr, und bei der
Frühlingswärme den Park besuchte, sah er abseits
vom Wege ein Mädchen in tiefen Gedanken sitzen.
Sie sah auf, ihr Blick traf den seinigen, und wie
von einer unbegreiflichen Begeisterung ergriffen,
ließ er anhalten, stieg aus, setzte sich zu ihr, faßte
ihre Hände, und ergoß sich in einem Strom von
Thränen. Man war von neuem für seinen Ver-
stand besorgt; aber er wurde ruhig, heiter und

Erſte Abtheilung.
Freunde, zerfallen, weil dieſer ihn zu zerſtreuen
ſuchte, und nicht jeder ſeiner finſtern Launen nach-
geben wollte. Im Grunde war ſeine uͤbertriebene
Reizbarkeit und Verſtimmung wohl Krankheit, die
ſich in ſeinem Koͤrper zubereitete; denn, wie euch
nicht unbekannt iſt, wurde er vor vier Monaten
vom heftigſten Nervenfieber befallen, ſo, daß wir
ihn alle ſchon aufgeben mußten. Nachdem ſeine
Phantaſien ausgeraſet hatten, und er wieder zu
ſich kam, hatte er ſein Gedaͤchtniß faſt ganz einge-
buͤßt, nur ſeine fruͤheren Kinder- und Jugendjahre
waren ihm gegenwaͤrtig, und er konnte ſich durch-
aus nicht erinnern, was waͤhrend ſeiner Reiſe oder
vor ſeiner Krankheit ſich mit ihm zugetragen habe.
Er mußte alle ſeine Freunde, ſelbſt den Roderich,
von neuem kennen lernen; nur nach und nach ward
es lichter in ſeinem Innern, und die Vergangen-
heit und was ihm widerfahren trat wieder, jedoch
immer nur ſchwach beleuchtet, in ſein Gedaͤchtniß
zuruͤck. Sein Oheim hatte ihn zu ſich in das
Haus genommen, um ihn beſſer zu verpflegen, und
er war wie ein Kind, und ließ alles mit ſich ma-
chen. Als er zum erſtenmal ausfuhr, und bei der
Fruͤhlingswaͤrme den Park beſuchte, ſah er abſeits
vom Wege ein Maͤdchen in tiefen Gedanken ſitzen.
Sie ſah auf, ihr Blick traf den ſeinigen, und wie
von einer unbegreiflichen Begeiſterung ergriffen,
ließ er anhalten, ſtieg aus, ſetzte ſich zu ihr, faßte
ihre Haͤnde, und ergoß ſich in einem Strom von
Thraͤnen. Man war von neuem fuͤr ſeinen Ver-
ſtand beſorgt; aber er wurde ruhig, heiter und

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[298/0309] Erſte Abtheilung. Freunde, zerfallen, weil dieſer ihn zu zerſtreuen ſuchte, und nicht jeder ſeiner finſtern Launen nach- geben wollte. Im Grunde war ſeine uͤbertriebene Reizbarkeit und Verſtimmung wohl Krankheit, die ſich in ſeinem Koͤrper zubereitete; denn, wie euch nicht unbekannt iſt, wurde er vor vier Monaten vom heftigſten Nervenfieber befallen, ſo, daß wir ihn alle ſchon aufgeben mußten. Nachdem ſeine Phantaſien ausgeraſet hatten, und er wieder zu ſich kam, hatte er ſein Gedaͤchtniß faſt ganz einge- buͤßt, nur ſeine fruͤheren Kinder- und Jugendjahre waren ihm gegenwaͤrtig, und er konnte ſich durch- aus nicht erinnern, was waͤhrend ſeiner Reiſe oder vor ſeiner Krankheit ſich mit ihm zugetragen habe. Er mußte alle ſeine Freunde, ſelbſt den Roderich, von neuem kennen lernen; nur nach und nach ward es lichter in ſeinem Innern, und die Vergangen- heit und was ihm widerfahren trat wieder, jedoch immer nur ſchwach beleuchtet, in ſein Gedaͤchtniß zuruͤck. Sein Oheim hatte ihn zu ſich in das Haus genommen, um ihn beſſer zu verpflegen, und er war wie ein Kind, und ließ alles mit ſich ma- chen. Als er zum erſtenmal ausfuhr, und bei der Fruͤhlingswaͤrme den Park beſuchte, ſah er abſeits vom Wege ein Maͤdchen in tiefen Gedanken ſitzen. Sie ſah auf, ihr Blick traf den ſeinigen, und wie von einer unbegreiflichen Begeiſterung ergriffen, ließ er anhalten, ſtieg aus, ſetzte ſich zu ihr, faßte ihre Haͤnde, und ergoß ſich in einem Strom von Thraͤnen. Man war von neuem fuͤr ſeinen Ver- ſtand beſorgt; aber er wurde ruhig, heiter und

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 298. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/309>, abgerufen am 22.11.2024.