Elend vom Leibe, so lange ihr könnt! rief er be- täubt. O auf zeitlebens, mein gnädigster Herr, sind wir glücklich! schrien alle.
Er wußte nicht, wie er fort gekommen war; er fand sich allein, und eilte mit wankenden Schrit- ten in den Wald. Die dichteste, einsamste Stelle suchte er auf, und warf sich auf einen Rasenhügel nieder, indem er den ausbrechenden Strom seiner Thränen nicht mehr zurückhielt. Mir ekelt das Leben! schluchzte er in tiefer Bewegung; ich kann nicht froh und glücklich seyn, ich will es nicht! Empfange mich bald du freundlicher Boden, ver- birg mich in deinen kühlen Armen vor den wilden Thieren, die sich Menschen nennen! O Gott im Himmel! wie verdien' ich es, daß ich auf Daunen ruhe und Seide trage, daß mir die Traube ihr kostbarstes Blut spendet, und alles mir Ehre und Liebe dringend anbietet und darbringt? Dieser Arme ist besser und edler als ich, und das Elend ist seine Amme, und Hohn und giftiger Spott sein Glück- wunsch. Sündlich dünkt mir jeder Leckerbissen, den ich genieße, jeder Trunk aus geschliffenem Glase, mein Ruhen auf weichen Betten, das Tragen von Gold und Geschmeide, da die Welt viel tausend mal tausend Unglückliche umher jagt, die nach dem weggeworfenen vertrockneten Brode hungern, die nicht wissen, was Labsal ist. O jetzt versteh ich euch, ihr frommen Heiligen, ihr Verschmähten, ihr Verhöhnten, die ihr Alles, bis auf euer Ge- wand der Armuth, ausstreutet, einen Sack um eure Lenden gürtetet, und selbst als Bettler die Schmäh-
Erſte Abtheilung.
Elend vom Leibe, ſo lange ihr koͤnnt! rief er be- taͤubt. O auf zeitlebens, mein gnaͤdigſter Herr, ſind wir gluͤcklich! ſchrien alle.
Er wußte nicht, wie er fort gekommen war; er fand ſich allein, und eilte mit wankenden Schrit- ten in den Wald. Die dichteſte, einſamſte Stelle ſuchte er auf, und warf ſich auf einen Raſenhuͤgel nieder, indem er den ausbrechenden Strom ſeiner Thraͤnen nicht mehr zuruͤckhielt. Mir ekelt das Leben! ſchluchzte er in tiefer Bewegung; ich kann nicht froh und gluͤcklich ſeyn, ich will es nicht! Empfange mich bald du freundlicher Boden, ver- birg mich in deinen kuͤhlen Armen vor den wilden Thieren, die ſich Menſchen nennen! O Gott im Himmel! wie verdien' ich es, daß ich auf Daunen ruhe und Seide trage, daß mir die Traube ihr koſtbarſtes Blut ſpendet, und alles mir Ehre und Liebe dringend anbietet und darbringt? Dieſer Arme iſt beſſer und edler als ich, und das Elend iſt ſeine Amme, und Hohn und giftiger Spott ſein Gluͤck- wunſch. Suͤndlich duͤnkt mir jeder Leckerbiſſen, den ich genieße, jeder Trunk aus geſchliffenem Glaſe, mein Ruhen auf weichen Betten, das Tragen von Gold und Geſchmeide, da die Welt viel tauſend mal tauſend Ungluͤckliche umher jagt, die nach dem weggeworfenen vertrockneten Brode hungern, die nicht wiſſen, was Labſal iſt. O jetzt verſteh ich euch, ihr frommen Heiligen, ihr Verſchmaͤhten, ihr Verhoͤhnten, die ihr Alles, bis auf euer Ge- wand der Armuth, ausſtreutet, einen Sack um eure Lenden guͤrtetet, und ſelbſt als Bettler die Schmaͤh-
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Erſte Abtheilung.
Elend vom Leibe, ſo lange ihr koͤnnt! rief er be-
taͤubt. O auf zeitlebens, mein gnaͤdigſter Herr,
ſind wir gluͤcklich! ſchrien alle.
Er wußte nicht, wie er fort gekommen war;
er fand ſich allein, und eilte mit wankenden Schrit-
ten in den Wald. Die dichteſte, einſamſte Stelle
ſuchte er auf, und warf ſich auf einen Raſenhuͤgel
nieder, indem er den ausbrechenden Strom ſeiner
Thraͤnen nicht mehr zuruͤckhielt. Mir ekelt das
Leben! ſchluchzte er in tiefer Bewegung; ich kann
nicht froh und gluͤcklich ſeyn, ich will es nicht!
Empfange mich bald du freundlicher Boden, ver-
birg mich in deinen kuͤhlen Armen vor den wilden
Thieren, die ſich Menſchen nennen! O Gott im
Himmel! wie verdien' ich es, daß ich auf Daunen
ruhe und Seide trage, daß mir die Traube ihr
koſtbarſtes Blut ſpendet, und alles mir Ehre und
Liebe dringend anbietet und darbringt? Dieſer Arme
iſt beſſer und edler als ich, und das Elend iſt ſeine
Amme, und Hohn und giftiger Spott ſein Gluͤck-
wunſch. Suͤndlich duͤnkt mir jeder Leckerbiſſen, den
ich genieße, jeder Trunk aus geſchliffenem Glaſe,
mein Ruhen auf weichen Betten, das Tragen von
Gold und Geſchmeide, da die Welt viel tauſend
mal tauſend Ungluͤckliche umher jagt, die nach dem
weggeworfenen vertrockneten Brode hungern, die
nicht wiſſen, was Labſal iſt. O jetzt verſteh ich
euch, ihr frommen Heiligen, ihr Verſchmaͤhten,
ihr Verhoͤhnten, die ihr Alles, bis auf euer Ge-
wand der Armuth, ausſtreutet, einen Sack um eure
Lenden guͤrtetet, und ſelbſt als Bettler die Schmaͤh-
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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 306. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/317>, abgerufen am 22.11.2024.
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