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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
daß die Braut vor einigen Jahren ein allerliebstes
verwaistes Kind, ein Mädchen, zu sich genommen
hatte, um es zu erziehn. Dieser Kleinen widmete
sie alle ihre Zeit, und die Liebe des zarten Ge-
schöpfes war ihr süßester Lohn. Dieses Mädchen
war sieben Jahr alt geworden, als sie sich auf
einem Spaziergange in der Stadt verlor, und aller
angewandten Mühe ohngeachtet, noch nicht wieder
hat aufgefunden werden können. Diesen Unfall
hat sich das edle Wesen so zu Gemüth gezogen,
daß sie seitdem an einer stillen Melankolie leidet,
und durch nichts von dieser Sehnsucht nach ihrer
kleinen Gespielin kann abgezogen werden.

Wahrhaftig, recht interessant! sagte das Fräu-
lein; das kann sich in der Zukunft recht roman-
tisch entwickeln, und zum angenehmsten Gedichte
Gelegenheit geben.

Man ordnete sich an der Tafel; Braut und
Bräutigam nahmen die Mitte ein, und sahen in
die heitere Landschaft hinaus. Man schwatzte und
trank Gesundheiten, die munterste Laune herrschte;
die Eltern der Braut waren ganz glücklich, nur
der Bräutigam war still und in sich gekehrt, genoß
nur wenig, und nahm an den Gesprächen keinen
Antheil. Er erschrack, als sich musikalische Töne
durch die Luft von oben hernieder warfen, doch
beruhigte er sich wieder, da es sanfte Hörnertöne
blieben, die angenehm über die Gebüsche hinweg
rauschten, sich durch den Park zogen, und am fer-
nen Berge verhallten. Roderich hatte sie auf die
Gallerie über die Speisenden gestellt, und Emil

Erſte Abtheilung.
daß die Braut vor einigen Jahren ein allerliebſtes
verwaiſtes Kind, ein Maͤdchen, zu ſich genommen
hatte, um es zu erziehn. Dieſer Kleinen widmete
ſie alle ihre Zeit, und die Liebe des zarten Ge-
ſchoͤpfes war ihr ſuͤßeſter Lohn. Dieſes Maͤdchen
war ſieben Jahr alt geworden, als ſie ſich auf
einem Spaziergange in der Stadt verlor, und aller
angewandten Muͤhe ohngeachtet, noch nicht wieder
hat aufgefunden werden koͤnnen. Dieſen Unfall
hat ſich das edle Weſen ſo zu Gemuͤth gezogen,
daß ſie ſeitdem an einer ſtillen Melankolie leidet,
und durch nichts von dieſer Sehnſucht nach ihrer
kleinen Geſpielin kann abgezogen werden.

Wahrhaftig, recht intereſſant! ſagte das Fraͤu-
lein; das kann ſich in der Zukunft recht roman-
tiſch entwickeln, und zum angenehmſten Gedichte
Gelegenheit geben.

Man ordnete ſich an der Tafel; Braut und
Braͤutigam nahmen die Mitte ein, und ſahen in
die heitere Landſchaft hinaus. Man ſchwatzte und
trank Geſundheiten, die munterſte Laune herrſchte;
die Eltern der Braut waren ganz gluͤcklich, nur
der Braͤutigam war ſtill und in ſich gekehrt, genoß
nur wenig, und nahm an den Geſpraͤchen keinen
Antheil. Er erſchrack, als ſich muſikaliſche Toͤne
durch die Luft von oben hernieder warfen, doch
beruhigte er ſich wieder, da es ſanfte Hoͤrnertoͤne
blieben, die angenehm uͤber die Gebuͤſche hinweg
rauſchten, ſich durch den Park zogen, und am fer-
nen Berge verhallten. Roderich hatte ſie auf die
Gallerie uͤber die Speiſenden geſtellt, und Emil

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[308/0319] Erſte Abtheilung. daß die Braut vor einigen Jahren ein allerliebſtes verwaiſtes Kind, ein Maͤdchen, zu ſich genommen hatte, um es zu erziehn. Dieſer Kleinen widmete ſie alle ihre Zeit, und die Liebe des zarten Ge- ſchoͤpfes war ihr ſuͤßeſter Lohn. Dieſes Maͤdchen war ſieben Jahr alt geworden, als ſie ſich auf einem Spaziergange in der Stadt verlor, und aller angewandten Muͤhe ohngeachtet, noch nicht wieder hat aufgefunden werden koͤnnen. Dieſen Unfall hat ſich das edle Weſen ſo zu Gemuͤth gezogen, daß ſie ſeitdem an einer ſtillen Melankolie leidet, und durch nichts von dieſer Sehnſucht nach ihrer kleinen Geſpielin kann abgezogen werden. Wahrhaftig, recht intereſſant! ſagte das Fraͤu- lein; das kann ſich in der Zukunft recht roman- tiſch entwickeln, und zum angenehmſten Gedichte Gelegenheit geben. Man ordnete ſich an der Tafel; Braut und Braͤutigam nahmen die Mitte ein, und ſahen in die heitere Landſchaft hinaus. Man ſchwatzte und trank Geſundheiten, die munterſte Laune herrſchte; die Eltern der Braut waren ganz gluͤcklich, nur der Braͤutigam war ſtill und in ſich gekehrt, genoß nur wenig, und nahm an den Geſpraͤchen keinen Antheil. Er erſchrack, als ſich muſikaliſche Toͤne durch die Luft von oben hernieder warfen, doch beruhigte er ſich wieder, da es ſanfte Hoͤrnertoͤne blieben, die angenehm uͤber die Gebuͤſche hinweg rauſchten, ſich durch den Park zogen, und am fer- nen Berge verhallten. Roderich hatte ſie auf die Gallerie uͤber die Speiſenden geſtellt, und Emil

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/319>, abgerufen am 22.11.2024.