Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
wieder zusammen kommen, so sehn wir dann, wer
der beste ist.

Gut, sagte Marie, und fing schon an zu
laufen, so hindern wir uns auch nicht auf demsel-
ben Wege, und der Vater sagt ja, es sei zum
Hügel hinauf gleich weit, ob man disseits, ob man
jenseits der Zigeunerwohnung geht.

Andres war schon vorangesprungen und Ma-
rie, die sich rechts wandte, sah ihn nicht mehr.
Er ist eigentlich dumm, sagte sie zu sich selbst,
denn ich dürfte nur den Muth fassen, über den
Steg, bei der Hütte vorbei, und drüben wieder
über den Hof hinaus zu laufen, so käme ich gewiß
viel früher an. Schon stand sie vor dem Bache
und dem Tannenhügel. Soll ich? Nein, es ist
doch zu schrecklich, sagte sie. Ein kleines weißes
Hündchen stand jenseit und bellte aus Leibeskräf-
ten. Im Erschrecken kam das Thier ihr wie ein
Ungeheuer vor, und sie sprang zurück. O weh!
sagte sie, nun ist der Bengel weit voraus, weil
ich hier steh und überlege. Das Hündchen bellte
immer fort, und da sie es genauer betrachtete,
kam es ihr nicht mehr fürchterlich, sondern im Ge-
gentheil ganz allerliebst vor: es hatte ein rothes
Halsband um, mit einer glänzenden Schelle, und
so wie es den Kopf hob und sich im Bellen schüt-
telte, erklang die Schelle äußerst lieblich. Ei! es
will nur gewagt seyn! rief die kleine Marie, ich
renne was ich kann, und bin schnell, schnell jen-
seit wieder hinaus, sie können mich doch eben nicht
gleich von der Erde weg auffressen! Somit sprang

Erſte Abtheilung.
wieder zuſammen kommen, ſo ſehn wir dann, wer
der beſte iſt.

Gut, ſagte Marie, und fing ſchon an zu
laufen, ſo hindern wir uns auch nicht auf demſel-
ben Wege, und der Vater ſagt ja, es ſei zum
Huͤgel hinauf gleich weit, ob man disſeits, ob man
jenſeits der Zigeunerwohnung geht.

Andres war ſchon vorangeſprungen und Ma-
rie, die ſich rechts wandte, ſah ihn nicht mehr.
Er iſt eigentlich dumm, ſagte ſie zu ſich ſelbſt,
denn ich duͤrfte nur den Muth faſſen, uͤber den
Steg, bei der Huͤtte vorbei, und druͤben wieder
uͤber den Hof hinaus zu laufen, ſo kaͤme ich gewiß
viel fruͤher an. Schon ſtand ſie vor dem Bache
und dem Tannenhuͤgel. Soll ich? Nein, es iſt
doch zu ſchrecklich, ſagte ſie. Ein kleines weißes
Huͤndchen ſtand jenſeit und bellte aus Leibeskraͤf-
ten. Im Erſchrecken kam das Thier ihr wie ein
Ungeheuer vor, und ſie ſprang zuruͤck. O weh!
ſagte ſie, nun iſt der Bengel weit voraus, weil
ich hier ſteh und uͤberlege. Das Huͤndchen bellte
immer fort, und da ſie es genauer betrachtete,
kam es ihr nicht mehr fuͤrchterlich, ſondern im Ge-
gentheil ganz allerliebſt vor: es hatte ein rothes
Halsband um, mit einer glaͤnzenden Schelle, und
ſo wie es den Kopf hob und ſich im Bellen ſchuͤt-
telte, erklang die Schelle aͤußerſt lieblich. Ei! es
will nur gewagt ſeyn! rief die kleine Marie, ich
renne was ich kann, und bin ſchnell, ſchnell jen-
ſeit wieder hinaus, ſie koͤnnen mich doch eben nicht
gleich von der Erde weg auffreſſen! Somit ſprang

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0415" n="404"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
wieder zu&#x017F;ammen kommen, &#x017F;o &#x017F;ehn wir dann, wer<lb/>
der be&#x017F;te i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Gut, &#x017F;agte Marie, und fing &#x017F;chon an zu<lb/>
laufen, &#x017F;o hindern wir uns auch nicht auf dem&#x017F;el-<lb/>
ben Wege, und der Vater &#x017F;agt ja, es &#x017F;ei zum<lb/>
Hu&#x0364;gel hinauf gleich weit, ob man dis&#x017F;eits, ob man<lb/>
jen&#x017F;eits der Zigeunerwohnung geht.</p><lb/>
          <p>Andres war &#x017F;chon vorange&#x017F;prungen und Ma-<lb/>
rie, die &#x017F;ich rechts wandte, &#x017F;ah ihn nicht mehr.<lb/>
Er i&#x017F;t eigentlich dumm, &#x017F;agte &#x017F;ie zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t,<lb/>
denn ich du&#x0364;rfte nur den Muth fa&#x017F;&#x017F;en, u&#x0364;ber den<lb/>
Steg, bei der Hu&#x0364;tte vorbei, und dru&#x0364;ben wieder<lb/>
u&#x0364;ber den Hof hinaus zu laufen, &#x017F;o ka&#x0364;me ich gewiß<lb/>
viel fru&#x0364;her an. Schon &#x017F;tand &#x017F;ie vor dem Bache<lb/>
und dem Tannenhu&#x0364;gel. Soll ich? Nein, es i&#x017F;t<lb/>
doch zu &#x017F;chrecklich, &#x017F;agte &#x017F;ie. Ein kleines weißes<lb/>
Hu&#x0364;ndchen &#x017F;tand jen&#x017F;eit und bellte aus Leibeskra&#x0364;f-<lb/>
ten. Im Er&#x017F;chrecken kam das Thier ihr wie ein<lb/>
Ungeheuer vor, und &#x017F;ie &#x017F;prang zuru&#x0364;ck. O weh!<lb/>
&#x017F;agte &#x017F;ie, nun i&#x017F;t der Bengel weit voraus, weil<lb/>
ich hier &#x017F;teh und u&#x0364;berlege. Das Hu&#x0364;ndchen bellte<lb/>
immer fort, und da &#x017F;ie es genauer betrachtete,<lb/>
kam es ihr nicht mehr fu&#x0364;rchterlich, &#x017F;ondern im Ge-<lb/>
gentheil ganz allerlieb&#x017F;t vor: es hatte ein rothes<lb/>
Halsband um, mit einer gla&#x0364;nzenden Schelle, und<lb/>
&#x017F;o wie es den Kopf hob und &#x017F;ich im Bellen &#x017F;chu&#x0364;t-<lb/>
telte, erklang die Schelle a&#x0364;ußer&#x017F;t lieblich. Ei! es<lb/>
will nur gewagt &#x017F;eyn! rief die kleine Marie, ich<lb/>
renne was ich kann, und bin &#x017F;chnell, &#x017F;chnell jen-<lb/>
&#x017F;eit wieder hinaus, &#x017F;ie ko&#x0364;nnen mich doch eben nicht<lb/>
gleich von der Erde weg auffre&#x017F;&#x017F;en! Somit &#x017F;prang<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[404/0415] Erſte Abtheilung. wieder zuſammen kommen, ſo ſehn wir dann, wer der beſte iſt. Gut, ſagte Marie, und fing ſchon an zu laufen, ſo hindern wir uns auch nicht auf demſel- ben Wege, und der Vater ſagt ja, es ſei zum Huͤgel hinauf gleich weit, ob man disſeits, ob man jenſeits der Zigeunerwohnung geht. Andres war ſchon vorangeſprungen und Ma- rie, die ſich rechts wandte, ſah ihn nicht mehr. Er iſt eigentlich dumm, ſagte ſie zu ſich ſelbſt, denn ich duͤrfte nur den Muth faſſen, uͤber den Steg, bei der Huͤtte vorbei, und druͤben wieder uͤber den Hof hinaus zu laufen, ſo kaͤme ich gewiß viel fruͤher an. Schon ſtand ſie vor dem Bache und dem Tannenhuͤgel. Soll ich? Nein, es iſt doch zu ſchrecklich, ſagte ſie. Ein kleines weißes Huͤndchen ſtand jenſeit und bellte aus Leibeskraͤf- ten. Im Erſchrecken kam das Thier ihr wie ein Ungeheuer vor, und ſie ſprang zuruͤck. O weh! ſagte ſie, nun iſt der Bengel weit voraus, weil ich hier ſteh und uͤberlege. Das Huͤndchen bellte immer fort, und da ſie es genauer betrachtete, kam es ihr nicht mehr fuͤrchterlich, ſondern im Ge- gentheil ganz allerliebſt vor: es hatte ein rothes Halsband um, mit einer glaͤnzenden Schelle, und ſo wie es den Kopf hob und ſich im Bellen ſchuͤt- telte, erklang die Schelle aͤußerſt lieblich. Ei! es will nur gewagt ſeyn! rief die kleine Marie, ich renne was ich kann, und bin ſchnell, ſchnell jen- ſeit wieder hinaus, ſie koͤnnen mich doch eben nicht gleich von der Erde weg auffreſſen! Somit ſprang

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/415
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 404. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/415>, abgerufen am 22.11.2024.