Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite

Erste Abtheilung.
halten wird. Ein Landedelmann ruhte neben sei-
ner Frau in einem Zimmer des Schlosses. Mit-
ternacht war schon vorüber, als er plötzlich aus
dem Schlafe auffuhr, und seine Gattin weckte.
Was ist dir, mein Lieber? fragte diese verwun-
dert. Mich hat ein seltsamer Traum auf eine
eigne Art bewegt, antwortete der Mann. Mir
war, als ginge ich auf den Saal hinaus, und
wie ich mich umsah, stand dein Kammermädchen
vor mir, aber so geputzt und aufgeschmückt, wie
ich sie niemals gesehn habe, auch trug sie einen
grünen Kranz in den Haaren; sie warf sich vor
mir nieder, umfaßte meine Knie, und beschwor
mich, ich solle ihr beistehn, denn ihr Leben
schwebe in der größten Gefahr. Ich habe sie
so deutlich vor mir gesehn, und bin von ihren
Thränen und Bitten so gerührt, daß ich nicht
weiß, was ich davon denken soll. Wer wird,
sagte die Frau, über einen zufälligen Traum
grübeln! Schlafe wohl und störe mich nicht
wieder. Beide schliefen ein. Nach einer halben
Stunde erwachte der Mann in noch größerer
Beängstigung; er rief seiner Gattin und sagte
ihr, daß der nemliche Traum mit denselben Um-
ständen ihm wieder vorgekommen sey, und das
Mädchen habe noch dringender gefleht, noch
schmerzlicher geweint. Die Frau schalt dieses
Wichtignehmen eines leeren Traumes, Grille, fand
die Widerholung der nemlichen Scene sehr na-
türlich und begreiflich; nach einem kurzen Ge-

Erſte Abtheilung.
halten wird. Ein Landedelmann ruhte neben ſei-
ner Frau in einem Zimmer des Schloſſes. Mit-
ternacht war ſchon voruͤber, als er ploͤtzlich aus
dem Schlafe auffuhr, und ſeine Gattin weckte.
Was iſt dir, mein Lieber? fragte dieſe verwun-
dert. Mich hat ein ſeltſamer Traum auf eine
eigne Art bewegt, antwortete der Mann. Mir
war, als ginge ich auf den Saal hinaus, und
wie ich mich umſah, ſtand dein Kammermaͤdchen
vor mir, aber ſo geputzt und aufgeſchmuͤckt, wie
ich ſie niemals geſehn habe, auch trug ſie einen
gruͤnen Kranz in den Haaren; ſie warf ſich vor
mir nieder, umfaßte meine Knie, und beſchwor
mich, ich ſolle ihr beiſtehn, denn ihr Leben
ſchwebe in der groͤßten Gefahr. Ich habe ſie
ſo deutlich vor mir geſehn, und bin von ihren
Thraͤnen und Bitten ſo geruͤhrt, daß ich nicht
weiß, was ich davon denken ſoll. Wer wird,
ſagte die Frau, uͤber einen zufaͤlligen Traum
gruͤbeln! Schlafe wohl und ſtoͤre mich nicht
wieder. Beide ſchliefen ein. Nach einer halben
Stunde erwachte der Mann in noch groͤßerer
Beaͤngſtigung; er rief ſeiner Gattin und ſagte
ihr, daß der nemliche Traum mit denſelben Um-
ſtaͤnden ihm wieder vorgekommen ſey, und das
Maͤdchen habe noch dringender gefleht, noch
ſchmerzlicher geweint. Die Frau ſchalt dieſes
Wichtignehmen eines leeren Traumes, Grille, fand
die Widerholung der nemlichen Scene ſehr na-
tuͤrlich und begreiflich; nach einem kurzen Ge-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0472" n="461"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Er&#x017F;te Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
halten wird. Ein Landedelmann ruhte neben &#x017F;ei-<lb/>
ner Frau in einem Zimmer des Schlo&#x017F;&#x017F;es. Mit-<lb/>
ternacht war &#x017F;chon voru&#x0364;ber, als er plo&#x0364;tzlich aus<lb/>
dem Schlafe auffuhr, und &#x017F;eine Gattin weckte.<lb/>
Was i&#x017F;t dir, mein Lieber? fragte die&#x017F;e verwun-<lb/>
dert. Mich hat ein &#x017F;elt&#x017F;amer Traum auf eine<lb/>
eigne Art bewegt, antwortete der Mann. Mir<lb/>
war, als ginge ich auf den Saal hinaus, und<lb/>
wie ich mich um&#x017F;ah, &#x017F;tand dein Kammerma&#x0364;dchen<lb/>
vor mir, aber &#x017F;o geputzt und aufge&#x017F;chmu&#x0364;ckt, wie<lb/>
ich &#x017F;ie niemals ge&#x017F;ehn habe, auch trug &#x017F;ie einen<lb/>
gru&#x0364;nen Kranz in den Haaren; &#x017F;ie warf &#x017F;ich vor<lb/>
mir nieder, umfaßte meine Knie, und be&#x017F;chwor<lb/>
mich, ich &#x017F;olle ihr bei&#x017F;tehn, denn ihr Leben<lb/>
&#x017F;chwebe in der gro&#x0364;ßten Gefahr. Ich habe &#x017F;ie<lb/>
&#x017F;o deutlich vor mir ge&#x017F;ehn, und bin von ihren<lb/>
Thra&#x0364;nen und Bitten &#x017F;o geru&#x0364;hrt, daß ich nicht<lb/>
weiß, was ich davon denken &#x017F;oll. Wer wird,<lb/>
&#x017F;agte die Frau, u&#x0364;ber einen zufa&#x0364;lligen Traum<lb/>
gru&#x0364;beln! Schlafe wohl und &#x017F;to&#x0364;re mich nicht<lb/>
wieder. Beide &#x017F;chliefen ein. Nach einer halben<lb/>
Stunde erwachte der Mann in noch gro&#x0364;ßerer<lb/>
Bea&#x0364;ng&#x017F;tigung; er rief &#x017F;einer Gattin und &#x017F;agte<lb/>
ihr, daß der nemliche Traum mit den&#x017F;elben Um-<lb/>
&#x017F;ta&#x0364;nden ihm wieder vorgekommen &#x017F;ey, und das<lb/>
Ma&#x0364;dchen habe noch dringender gefleht, noch<lb/>
&#x017F;chmerzlicher geweint. Die Frau &#x017F;chalt die&#x017F;es<lb/>
Wichtignehmen eines leeren Traumes, Grille, fand<lb/>
die Widerholung der nemlichen Scene &#x017F;ehr na-<lb/>
tu&#x0364;rlich und begreiflich; nach einem kurzen Ge-<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[461/0472] Erſte Abtheilung. halten wird. Ein Landedelmann ruhte neben ſei- ner Frau in einem Zimmer des Schloſſes. Mit- ternacht war ſchon voruͤber, als er ploͤtzlich aus dem Schlafe auffuhr, und ſeine Gattin weckte. Was iſt dir, mein Lieber? fragte dieſe verwun- dert. Mich hat ein ſeltſamer Traum auf eine eigne Art bewegt, antwortete der Mann. Mir war, als ginge ich auf den Saal hinaus, und wie ich mich umſah, ſtand dein Kammermaͤdchen vor mir, aber ſo geputzt und aufgeſchmuͤckt, wie ich ſie niemals geſehn habe, auch trug ſie einen gruͤnen Kranz in den Haaren; ſie warf ſich vor mir nieder, umfaßte meine Knie, und beſchwor mich, ich ſolle ihr beiſtehn, denn ihr Leben ſchwebe in der groͤßten Gefahr. Ich habe ſie ſo deutlich vor mir geſehn, und bin von ihren Thraͤnen und Bitten ſo geruͤhrt, daß ich nicht weiß, was ich davon denken ſoll. Wer wird, ſagte die Frau, uͤber einen zufaͤlligen Traum gruͤbeln! Schlafe wohl und ſtoͤre mich nicht wieder. Beide ſchliefen ein. Nach einer halben Stunde erwachte der Mann in noch groͤßerer Beaͤngſtigung; er rief ſeiner Gattin und ſagte ihr, daß der nemliche Traum mit denſelben Um- ſtaͤnden ihm wieder vorgekommen ſey, und das Maͤdchen habe noch dringender gefleht, noch ſchmerzlicher geweint. Die Frau ſchalt dieſes Wichtignehmen eines leeren Traumes, Grille, fand die Widerholung der nemlichen Scene ſehr na- tuͤrlich und begreiflich; nach einem kurzen Ge-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/472
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 461. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/472>, abgerufen am 16.07.2024.