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Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.

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Erste Abtheilung.
päpstlichen Pallast auf Monte Cavallo, war eben
so einzig, als es das jüngste Gericht von Mi-
chael Angelo, oder die Stanzen Rafaels sind;
man konnte diesen Genuß auch nur in dem ein-
zigen Rom haben, und wie diese Hauptstadt der
Welt, der Mittelpunkt der Mahlerei und Skulp-
tur war, so war sie auch die wahre hohe Schule
der Musik. Diese Herrlichkeit ist nun auch zer-
trümmert, und man kann davon nur wie von
einer alten wunderbaren Sage erzählen. Schon
früher war es für mich eine Epoche meines Le-
bens gewesen, diesen alten wahren Gesang ken-
nen zu lernen: ich hatte immer nach Musik, nach
der höchsten, gedürstet, und geglaubt, keinen Sinn
für diese Kunst zu besitzen, als mit der Kennt-
niß des Palestrina, Leo, Allegri, und jener Al-
ten, die man jetzt von den Liebhabern selten oder
nie nennen hört, mein Gehör und mein Geist
erwachte. Seitdem weiß ich wohl, was ich vor-
her suchte, und warum ehemals mich nichts be-
friedigen wollte. Seitdem glaube ich eingesehen
zu haben, daß nur dieses die wahre Musik sey,
und daß der Strom, den man in den weltlichen
Luxus unserer Oper hinein geleitet hat, um ihn
mit Zorn, Rache und allen Leidenschaften zu ver-
setzen, trübe und unlauter geworden ist: denn
unter den Künsten ist die Musik die religiöseste,
sie ist ganz Andacht, Sehnsucht, Demuth, Liebe;
sie kann nicht pathetisch seyn, und auf ihre
Stärke und Kraft pochen, oder sich in Verzweif-

Erſte Abtheilung.
paͤpſtlichen Pallaſt auf Monte Cavallo, war eben
ſo einzig, als es das juͤngſte Gericht von Mi-
chael Angelo, oder die Stanzen Rafaels ſind;
man konnte dieſen Genuß auch nur in dem ein-
zigen Rom haben, und wie dieſe Hauptſtadt der
Welt, der Mittelpunkt der Mahlerei und Skulp-
tur war, ſo war ſie auch die wahre hohe Schule
der Muſik. Dieſe Herrlichkeit iſt nun auch zer-
truͤmmert, und man kann davon nur wie von
einer alten wunderbaren Sage erzaͤhlen. Schon
fruͤher war es fuͤr mich eine Epoche meines Le-
bens geweſen, dieſen alten wahren Geſang ken-
nen zu lernen: ich hatte immer nach Muſik, nach
der hoͤchſten, geduͤrſtet, und geglaubt, keinen Sinn
fuͤr dieſe Kunſt zu beſitzen, als mit der Kennt-
niß des Paleſtrina, Leo, Allegri, und jener Al-
ten, die man jetzt von den Liebhabern ſelten oder
nie nennen hoͤrt, mein Gehoͤr und mein Geiſt
erwachte. Seitdem weiß ich wohl, was ich vor-
her ſuchte, und warum ehemals mich nichts be-
friedigen wollte. Seitdem glaube ich eingeſehen
zu haben, daß nur dieſes die wahre Muſik ſey,
und daß der Strom, den man in den weltlichen
Luxus unſerer Oper hinein geleitet hat, um ihn
mit Zorn, Rache und allen Leidenſchaften zu ver-
ſetzen, truͤbe und unlauter geworden iſt: denn
unter den Kuͤnſten iſt die Muſik die religioͤſeſte,
ſie iſt ganz Andacht, Sehnſucht, Demuth, Liebe;
ſie kann nicht pathetiſch ſeyn, und auf ihre
Staͤrke und Kraft pochen, oder ſich in Verzweif-

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[467/0478] Erſte Abtheilung. paͤpſtlichen Pallaſt auf Monte Cavallo, war eben ſo einzig, als es das juͤngſte Gericht von Mi- chael Angelo, oder die Stanzen Rafaels ſind; man konnte dieſen Genuß auch nur in dem ein- zigen Rom haben, und wie dieſe Hauptſtadt der Welt, der Mittelpunkt der Mahlerei und Skulp- tur war, ſo war ſie auch die wahre hohe Schule der Muſik. Dieſe Herrlichkeit iſt nun auch zer- truͤmmert, und man kann davon nur wie von einer alten wunderbaren Sage erzaͤhlen. Schon fruͤher war es fuͤr mich eine Epoche meines Le- bens geweſen, dieſen alten wahren Geſang ken- nen zu lernen: ich hatte immer nach Muſik, nach der hoͤchſten, geduͤrſtet, und geglaubt, keinen Sinn fuͤr dieſe Kunſt zu beſitzen, als mit der Kennt- niß des Paleſtrina, Leo, Allegri, und jener Al- ten, die man jetzt von den Liebhabern ſelten oder nie nennen hoͤrt, mein Gehoͤr und mein Geiſt erwachte. Seitdem weiß ich wohl, was ich vor- her ſuchte, und warum ehemals mich nichts be- friedigen wollte. Seitdem glaube ich eingeſehen zu haben, daß nur dieſes die wahre Muſik ſey, und daß der Strom, den man in den weltlichen Luxus unſerer Oper hinein geleitet hat, um ihn mit Zorn, Rache und allen Leidenſchaften zu ver- ſetzen, truͤbe und unlauter geworden iſt: denn unter den Kuͤnſten iſt die Muſik die religioͤſeſte, ſie iſt ganz Andacht, Sehnſucht, Demuth, Liebe; ſie kann nicht pathetiſch ſeyn, und auf ihre Staͤrke und Kraft pochen, oder ſich in Verzweif-

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Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 467. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/478>, abgerufen am 22.11.2024.