Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812.Rothkäppchen. Und ließest die wilde Gesinnung fahren,So würde was aus dir mit den Jahren. Wolf. Nein, Freund, wir wollen uns so was ersparen. In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thränen An jene Tage der Unschuldzeit, Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen, Wie trug ich von Wirken und Nützen ein Wähnen, Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit! Es kann sich keiner in Idealen So weit versteigen, so prächtig sie mahlen, Wie ich alle Talente und alle Kräfte Nur widmen wollte dem Menschheitsgeschäfte, Dem herrlichen Fortrücken des Jahrhunderts, Versprach von meinem Wirken mir viel Wunders, Und alles lief gar lausig ab, Wie ich dir schon sonst erzählet hab. Hund. Erzähle noch einmal, ich höre dir zu, Es sitzt sich hier gut in der stillen Ruh. Wolf. Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte Beim Bauer Hans, wo du dientest als Knecht, Ich mich aus meinem Wald entfernte Und alle Künste des Hundes lernte, Verläugnete ganz mein eigen Geschlecht, Um nur dem Staate zu werden recht. Ich verscheuchte die Diebe, bewachte den Hof, Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff, Erlitt oft Hunger, der Prügel nicht wenig, Doch war ich in meinen Gedanken ein König; I. [ 32 ]
Rothkaͤppchen. Und ließeſt die wilde Geſinnung fahren,So wuͤrde was aus dir mit den Jahren. Wolf. Nein, Freund, wir wollen uns ſo was erſparen. In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thraͤnen An jene Tage der Unſchuldzeit, Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen, Wie trug ich von Wirken und Nuͤtzen ein Waͤhnen, Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit! Es kann ſich keiner in Idealen So weit verſteigen, ſo praͤchtig ſie mahlen, Wie ich alle Talente und alle Kraͤfte Nur widmen wollte dem Menſchheitsgeſchaͤfte, Dem herrlichen Fortruͤcken des Jahrhunderts, Verſprach von meinem Wirken mir viel Wunders, Und alles lief gar lauſig ab, Wie ich dir ſchon ſonſt erzaͤhlet hab. Hund. Erzaͤhle noch einmal, ich hoͤre dir zu, Es ſitzt ſich hier gut in der ſtillen Ruh. Wolf. Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte Beim Bauer Hans, wo du dienteſt als Knecht, Ich mich aus meinem Wald entfernte Und alle Kuͤnſte des Hundes lernte, Verlaͤugnete ganz mein eigen Geſchlecht, Um nur dem Staate zu werden recht. Ich verſcheuchte die Diebe, bewachte den Hof, Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff, Erlitt oft Hunger, der Pruͤgel nicht wenig, Doch war ich in meinen Gedanken ein Koͤnig; I. [ 32 ]
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <sp who="#HUND"> <p><pb facs="#f0508" n="497"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Rothkaͤppchen</hi>.</fw><lb/> Und ließeſt die wilde Geſinnung fahren,<lb/> So wuͤrde was aus dir mit den Jahren.</p> </sp><lb/> <sp who="#WOLF"> <speaker><hi rendition="#g">Wolf</hi>.</speaker><lb/> <p>Nein, Freund, wir wollen uns ſo was erſparen.<lb/> In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thraͤnen<lb/> An jene Tage der Unſchuldzeit,<lb/> Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen,<lb/> Wie trug ich von Wirken und Nuͤtzen ein Waͤhnen,<lb/> Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit!<lb/> Es kann ſich keiner in Idealen<lb/> So weit verſteigen, ſo praͤchtig ſie mahlen,<lb/> Wie ich alle Talente und alle Kraͤfte<lb/> Nur widmen wollte dem Menſchheitsgeſchaͤfte,<lb/> Dem herrlichen Fortruͤcken des Jahrhunderts,<lb/> Verſprach von meinem Wirken mir viel Wunders,<lb/> Und alles lief gar lauſig ab,<lb/> Wie ich dir ſchon ſonſt erzaͤhlet hab.</p> </sp><lb/> <sp who="#HUND"> <speaker><hi rendition="#g">Hund</hi>.</speaker><lb/> <p>Erzaͤhle noch einmal, ich hoͤre dir zu,<lb/> Es ſitzt ſich hier gut in der ſtillen Ruh.</p> </sp><lb/> <sp who="#WOLF"> <speaker><hi rendition="#g">Wolf</hi>.</speaker><lb/> <p>Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte<lb/> Beim Bauer Hans, wo du dienteſt als Knecht,<lb/> Ich mich aus meinem Wald entfernte<lb/> Und alle Kuͤnſte des Hundes lernte,<lb/> Verlaͤugnete ganz mein eigen Geſchlecht,<lb/> Um nur dem Staate zu werden recht.<lb/> Ich verſcheuchte die Diebe, bewachte den Hof,<lb/> Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff,<lb/> Erlitt oft Hunger, der Pruͤgel nicht wenig,<lb/> Doch war ich in meinen Gedanken ein Koͤnig;<lb/> <fw place="bottom" type="sig">I. [ 32 ]</fw><lb/></p> </sp> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [497/0508]
Rothkaͤppchen.
Und ließeſt die wilde Geſinnung fahren,
So wuͤrde was aus dir mit den Jahren.
Wolf.
Nein, Freund, wir wollen uns ſo was erſparen.
In der Kindheit, ich denke noch immer mit Thraͤnen
An jene Tage der Unſchuldzeit,
Wie hatt' ich da ein inniges Sehnen,
Wie trug ich von Wirken und Nuͤtzen ein Waͤhnen,
Wie war ich zu herrlichen Thaten bereit!
Es kann ſich keiner in Idealen
So weit verſteigen, ſo praͤchtig ſie mahlen,
Wie ich alle Talente und alle Kraͤfte
Nur widmen wollte dem Menſchheitsgeſchaͤfte,
Dem herrlichen Fortruͤcken des Jahrhunderts,
Verſprach von meinem Wirken mir viel Wunders,
Und alles lief gar lauſig ab,
Wie ich dir ſchon ſonſt erzaͤhlet hab.
Hund.
Erzaͤhle noch einmal, ich hoͤre dir zu,
Es ſitzt ſich hier gut in der ſtillen Ruh.
Wolf.
Du weißt, wie damals, als ich dich kennen lernte
Beim Bauer Hans, wo du dienteſt als Knecht,
Ich mich aus meinem Wald entfernte
Und alle Kuͤnſte des Hundes lernte,
Verlaͤugnete ganz mein eigen Geſchlecht,
Um nur dem Staate zu werden recht.
Ich verſcheuchte die Diebe, bewachte den Hof,
Im Regen lag ich, daß der Pelz mir troff,
Erlitt oft Hunger, der Pruͤgel nicht wenig,
Doch war ich in meinen Gedanken ein Koͤnig;
I. [ 32 ]
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools
|
URL zu diesem Werk: | https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812 |
URL zu dieser Seite: | https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/508 |
Zitationshilfe: | Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 1. Berlin, 1812, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus01_1812/508>, abgerufen am 17.07.2024. |