Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweite Abtheilung.
Die Musik spricht:
In inn'ger Lieb' war ich mit diesem Kinde,
Und ihm gelang, in süßen Himmels-Weisen
Die Mutter Gottes wunderhold zu preisen,
Und Aller Herzen rührt sein Geist gelinde.
Da lösten sie in Wehmuth ihre Sünde,
Es beteten die Thoren wie die Weisen,
Der Engel fuhr herab in Thränen, leisen
Flügelgetöns, daß er ihr Heil verkünde.
Da fiel den Bösen Zagen an und Beben,
Er sprach: der süße Pfeil hat all' getroffen,
Mein Reich versinkt, den Menschen nur zum Spotte!
Er stürmt ihn an, des Jünglings Herz war offen
In Andacht, reißt die Blätter ab vom Leben,
Und aus dem Reich entblüht der Geist zu Gotte.


Das heiterste Wetter war wieder eingetre-
ten, daher genoß die Gesellschaft am folgenden
Tage die Schönheit der Gegend um so mehr,
als dieser Genuß so ganz unerwartet kam. Alle
waren froh, nur Auguste schien verstimmt, und
als man sich am Abend zur gewöhnlichen Lese-
stunde niedersetzte, machte sie Mine, fortzugehn.
Du bist wieder einmal ungezogen, sagte Man-
fred; was ist dir, Schwester? Nichts, rief sie
aus, aber ich bin heut nicht aufgelegt.

Lassen wir die schöne Ungnädige, sagte Wili-
bald, sie will uns eben zeigen, wie weit die Lie-
benswürdigkeit ihren Eigensinn treiben dürfe,
ohne unliebenswürdig zu werden.


Zweite Abtheilung.
Die Muſik ſpricht:
In inn'ger Lieb' war ich mit dieſem Kinde,
Und ihm gelang, in ſuͤßen Himmels-Weiſen
Die Mutter Gottes wunderhold zu preiſen,
Und Aller Herzen ruͤhrt ſein Geiſt gelinde.
Da loͤſten ſie in Wehmuth ihre Suͤnde,
Es beteten die Thoren wie die Weiſen,
Der Engel fuhr herab in Thraͤnen, leiſen
Fluͤgelgetoͤns, daß er ihr Heil verkuͤnde.
Da fiel den Boͤſen Zagen an und Beben,
Er ſprach: der ſuͤße Pfeil hat all' getroffen,
Mein Reich verſinkt, den Menſchen nur zum Spotte!
Er ſtuͤrmt ihn an, des Juͤnglings Herz war offen
In Andacht, reißt die Blaͤtter ab vom Leben,
Und aus dem Reich entbluͤht der Geiſt zu Gotte.


Das heiterſte Wetter war wieder eingetre-
ten, daher genoß die Geſellſchaft am folgenden
Tage die Schoͤnheit der Gegend um ſo mehr,
als dieſer Genuß ſo ganz unerwartet kam. Alle
waren froh, nur Auguſte ſchien verſtimmt, und
als man ſich am Abend zur gewoͤhnlichen Leſe-
ſtunde niederſetzte, machte ſie Mine, fortzugehn.
Du biſt wieder einmal ungezogen, ſagte Man-
fred; was iſt dir, Schweſter? Nichts, rief ſie
aus, aber ich bin heut nicht aufgelegt.

Laſſen wir die ſchoͤne Ungnaͤdige, ſagte Wili-
bald, ſie will uns eben zeigen, wie weit die Lie-
benswuͤrdigkeit ihren Eigenſinn treiben duͤrfe,
ohne unliebenswuͤrdig zu werden.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0455" n="446"/>
            <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
            <lg type="poem">
              <head> <hi rendition="#c"><hi rendition="#g">Die Mu&#x017F;ik &#x017F;pricht</hi>:</hi> </head><lb/>
              <lg n="1">
                <l>In inn'ger Lieb' war ich mit die&#x017F;em Kinde,</l><lb/>
                <l>Und ihm gelang, in &#x017F;u&#x0364;ßen Himmels-Wei&#x017F;en</l><lb/>
                <l>Die Mutter Gottes wunderhold zu prei&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Und Aller Herzen ru&#x0364;hrt &#x017F;ein Gei&#x017F;t gelinde.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="2">
                <l>Da lo&#x0364;&#x017F;ten &#x017F;ie in Wehmuth ihre Su&#x0364;nde,</l><lb/>
                <l>Es beteten die Thoren wie die Wei&#x017F;en,</l><lb/>
                <l>Der Engel fuhr herab in Thra&#x0364;nen, lei&#x017F;en</l><lb/>
                <l>Flu&#x0364;gelgeto&#x0364;ns, daß er ihr Heil verku&#x0364;nde.</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="3">
                <l>Da fiel den Bo&#x0364;&#x017F;en Zagen an und Beben,</l><lb/>
                <l>Er &#x017F;prach: der &#x017F;u&#x0364;ße Pfeil hat all' getroffen,</l><lb/>
                <l>Mein Reich ver&#x017F;inkt, den Men&#x017F;chen nur zum Spotte!</l>
              </lg><lb/>
              <lg n="4">
                <l>Er &#x017F;tu&#x0364;rmt ihn an, des Ju&#x0364;nglings Herz war offen</l><lb/>
                <l>In Andacht, reißt die Bla&#x0364;tter ab vom Leben,</l><lb/>
                <l>Und aus dem Reich entblu&#x0364;ht der Gei&#x017F;t zu Gotte.</l>
              </lg>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/>
            <p>Das heiter&#x017F;te Wetter war wieder eingetre-<lb/>
ten, daher genoß die Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft am folgenden<lb/>
Tage die Scho&#x0364;nheit der Gegend um &#x017F;o mehr,<lb/>
als die&#x017F;er Genuß &#x017F;o ganz unerwartet kam. Alle<lb/>
waren froh, nur Augu&#x017F;te &#x017F;chien ver&#x017F;timmt, und<lb/>
als man &#x017F;ich am Abend zur gewo&#x0364;hnlichen Le&#x017F;e-<lb/>
&#x017F;tunde nieder&#x017F;etzte, machte &#x017F;ie Mine, fortzugehn.<lb/>
Du bi&#x017F;t wieder einmal ungezogen, &#x017F;agte Man-<lb/>
fred; was i&#x017F;t dir, Schwe&#x017F;ter? Nichts, rief &#x017F;ie<lb/>
aus, aber ich bin heut nicht aufgelegt.</p><lb/>
            <p>La&#x017F;&#x017F;en wir die &#x017F;cho&#x0364;ne Ungna&#x0364;dige, &#x017F;agte Wili-<lb/>
bald, &#x017F;ie will uns eben zeigen, wie weit die Lie-<lb/>
benswu&#x0364;rdigkeit ihren Eigen&#x017F;inn treiben du&#x0364;rfe,<lb/>
ohne unliebenswu&#x0364;rdig zu werden.</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[446/0455] Zweite Abtheilung. Die Muſik ſpricht: In inn'ger Lieb' war ich mit dieſem Kinde, Und ihm gelang, in ſuͤßen Himmels-Weiſen Die Mutter Gottes wunderhold zu preiſen, Und Aller Herzen ruͤhrt ſein Geiſt gelinde. Da loͤſten ſie in Wehmuth ihre Suͤnde, Es beteten die Thoren wie die Weiſen, Der Engel fuhr herab in Thraͤnen, leiſen Fluͤgelgetoͤns, daß er ihr Heil verkuͤnde. Da fiel den Boͤſen Zagen an und Beben, Er ſprach: der ſuͤße Pfeil hat all' getroffen, Mein Reich verſinkt, den Menſchen nur zum Spotte! Er ſtuͤrmt ihn an, des Juͤnglings Herz war offen In Andacht, reißt die Blaͤtter ab vom Leben, Und aus dem Reich entbluͤht der Geiſt zu Gotte. Das heiterſte Wetter war wieder eingetre- ten, daher genoß die Geſellſchaft am folgenden Tage die Schoͤnheit der Gegend um ſo mehr, als dieſer Genuß ſo ganz unerwartet kam. Alle waren froh, nur Auguſte ſchien verſtimmt, und als man ſich am Abend zur gewoͤhnlichen Leſe- ſtunde niederſetzte, machte ſie Mine, fortzugehn. Du biſt wieder einmal ungezogen, ſagte Man- fred; was iſt dir, Schweſter? Nichts, rief ſie aus, aber ich bin heut nicht aufgelegt. Laſſen wir die ſchoͤne Ungnaͤdige, ſagte Wili- bald, ſie will uns eben zeigen, wie weit die Lie- benswuͤrdigkeit ihren Eigenſinn treiben duͤrfe, ohne unliebenswuͤrdig zu werden.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/455
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 2. Berlin, 1812, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus02_1812/455>, abgerufen am 22.11.2024.