Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816.

Bild:
<< vorherige Seite
Zweite Abtheilung.
geln schwebend. Tiefsinnig sah er in das zaube-
rische Licht, indem die Heimchen und Grillen im
Grase schrillten, und aus dem Thale unten der
volle Gesang einer Nachtigall herauf schmetterte.
Der Mond erhob sich, und nun lag die Land-
schaft auf beiden Seiten unter ihm im magischen
Glanze. Er ging zurück und stellte sich über den
Garten und das Haus seines Freundes. Wie
ruhig lagen unten die schattigen Gänge, wie in
stillen Träumen; der Springbrunnen lebte und
scherzte im Mondstrahl und warf bunte Lichter,
die reinen Wege glänzten, der volle Schein lag
auf dem Dache des Hauses und den Fenstern.
Dort sah er auf seiner Stube das einsame Licht
brennen, welches er zurückgelassen hatte. Das
Gebirge umher schaute ihn ernst und erhaben an.

Es giebt Momente im Leben, sagte er in Ge-
danken zu sich selbst, in welchen unser ganzes
Daseyn sich wie in einen Traum auflösen will,
wo Ahndungen, die lange schliefen, aus jener
räthselhaften Ferne unsers Gemüthes näher
schreiten, wo Wonne und Leid so durcheinander
fluten, wie der Gesang dieses geflügelten
Nachtsängers mit dem Bergesrauschen und dem
Mühlbach unten, wo wir uns wie aus uns selbst
verlieren, in die umgebende Natur wie in un-
sre innigste Sehnsucht hineinstreben, und doch
recht unsers eigensten Herzens im süßen Verges-
sen inne werden. O holde Natur, wie beutst
du mir heut wieder die Wange zum zärtlichsten
Zweite Abtheilung.
geln ſchwebend. Tiefſinnig ſah er in das zaube-
riſche Licht, indem die Heimchen und Grillen im
Graſe ſchrillten, und aus dem Thale unten der
volle Geſang einer Nachtigall herauf ſchmetterte.
Der Mond erhob ſich, und nun lag die Land-
ſchaft auf beiden Seiten unter ihm im magiſchen
Glanze. Er ging zuruͤck und ſtellte ſich uͤber den
Garten und das Haus ſeines Freundes. Wie
ruhig lagen unten die ſchattigen Gaͤnge, wie in
ſtillen Traͤumen; der Springbrunnen lebte und
ſcherzte im Mondſtrahl und warf bunte Lichter,
die reinen Wege glaͤnzten, der volle Schein lag
auf dem Dache des Hauſes und den Fenſtern.
Dort ſah er auf ſeiner Stube das einſame Licht
brennen, welches er zuruͤckgelaſſen hatte. Das
Gebirge umher ſchaute ihn ernſt und erhaben an.

Es giebt Momente im Leben, ſagte er in Ge-
danken zu ſich ſelbſt, in welchen unſer ganzes
Daſeyn ſich wie in einen Traum aufloͤſen will,
wo Ahndungen, die lange ſchliefen, aus jener
raͤthſelhaften Ferne unſers Gemuͤthes naͤher
ſchreiten, wo Wonne und Leid ſo durcheinander
fluten, wie der Geſang dieſes gefluͤgelten
Nachtſaͤngers mit dem Bergesrauſchen und dem
Muͤhlbach unten, wo wir uns wie aus uns ſelbſt
verlieren, in die umgebende Natur wie in un-
ſre innigſte Sehnſucht hineinſtreben, und doch
recht unſers eigenſten Herzens im ſuͤßen Vergeſ-
ſen inne werden. O holde Natur, wie beutſt
du mir heut wieder die Wange zum zaͤrtlichſten
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <sp who="#VAL">
                <p><pb facs="#f0243" n="233"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweite Abtheilung</hi>.</fw><lb/>
geln &#x017F;chwebend. Tief&#x017F;innig &#x017F;ah er in das zaube-<lb/>
ri&#x017F;che Licht, indem die Heimchen und Grillen im<lb/>
Gra&#x017F;e &#x017F;chrillten, und aus dem Thale unten der<lb/>
volle Ge&#x017F;ang einer Nachtigall herauf &#x017F;chmetterte.<lb/>
Der Mond erhob &#x017F;ich, und nun lag die Land-<lb/>
&#x017F;chaft auf beiden Seiten unter ihm im magi&#x017F;chen<lb/>
Glanze. Er ging zuru&#x0364;ck und &#x017F;tellte &#x017F;ich u&#x0364;ber den<lb/>
Garten und das Haus &#x017F;eines Freundes. Wie<lb/>
ruhig lagen unten die &#x017F;chattigen Ga&#x0364;nge, wie in<lb/>
&#x017F;tillen Tra&#x0364;umen; der Springbrunnen lebte und<lb/>
&#x017F;cherzte im Mond&#x017F;trahl und warf bunte Lichter,<lb/>
die reinen Wege gla&#x0364;nzten, der volle Schein lag<lb/>
auf dem Dache des Hau&#x017F;es und den Fen&#x017F;tern.<lb/>
Dort &#x017F;ah er auf &#x017F;einer Stube das ein&#x017F;ame Licht<lb/>
brennen, welches er zuru&#x0364;ckgela&#x017F;&#x017F;en hatte. Das<lb/>
Gebirge umher &#x017F;chaute ihn ern&#x017F;t und erhaben an.</p><lb/>
                <p>Es giebt Momente im Leben, &#x017F;agte er in Ge-<lb/>
danken zu &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t, in welchen un&#x017F;er ganzes<lb/>
Da&#x017F;eyn &#x017F;ich wie in einen Traum auflo&#x0364;&#x017F;en will,<lb/>
wo Ahndungen, die lange &#x017F;chliefen, aus jener<lb/>
ra&#x0364;th&#x017F;elhaften Ferne un&#x017F;ers Gemu&#x0364;thes na&#x0364;her<lb/>
&#x017F;chreiten, wo Wonne und Leid &#x017F;o durcheinander<lb/>
fluten, wie der Ge&#x017F;ang die&#x017F;es geflu&#x0364;gelten<lb/>
Nacht&#x017F;a&#x0364;ngers mit dem Bergesrau&#x017F;chen und dem<lb/>
Mu&#x0364;hlbach unten, wo wir uns wie aus uns &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
verlieren, in die umgebende Natur wie in un-<lb/>
&#x017F;re innig&#x017F;te Sehn&#x017F;ucht hinein&#x017F;treben, und doch<lb/>
recht un&#x017F;ers eigen&#x017F;ten Herzens im &#x017F;u&#x0364;ßen Verge&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en inne werden. O holde Natur, wie beut&#x017F;t<lb/>
du mir heut wieder die Wange zum za&#x0364;rtlich&#x017F;ten<lb/></p>
              </sp>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[233/0243] Zweite Abtheilung. geln ſchwebend. Tiefſinnig ſah er in das zaube- riſche Licht, indem die Heimchen und Grillen im Graſe ſchrillten, und aus dem Thale unten der volle Geſang einer Nachtigall herauf ſchmetterte. Der Mond erhob ſich, und nun lag die Land- ſchaft auf beiden Seiten unter ihm im magiſchen Glanze. Er ging zuruͤck und ſtellte ſich uͤber den Garten und das Haus ſeines Freundes. Wie ruhig lagen unten die ſchattigen Gaͤnge, wie in ſtillen Traͤumen; der Springbrunnen lebte und ſcherzte im Mondſtrahl und warf bunte Lichter, die reinen Wege glaͤnzten, der volle Schein lag auf dem Dache des Hauſes und den Fenſtern. Dort ſah er auf ſeiner Stube das einſame Licht brennen, welches er zuruͤckgelaſſen hatte. Das Gebirge umher ſchaute ihn ernſt und erhaben an. Es giebt Momente im Leben, ſagte er in Ge- danken zu ſich ſelbſt, in welchen unſer ganzes Daſeyn ſich wie in einen Traum aufloͤſen will, wo Ahndungen, die lange ſchliefen, aus jener raͤthſelhaften Ferne unſers Gemuͤthes naͤher ſchreiten, wo Wonne und Leid ſo durcheinander fluten, wie der Geſang dieſes gefluͤgelten Nachtſaͤngers mit dem Bergesrauſchen und dem Muͤhlbach unten, wo wir uns wie aus uns ſelbſt verlieren, in die umgebende Natur wie in un- ſre innigſte Sehnſucht hineinſtreben, und doch recht unſers eigenſten Herzens im ſuͤßen Vergeſ- ſen inne werden. O holde Natur, wie beutſt du mir heut wieder die Wange zum zaͤrtlichſten

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/243
Zitationshilfe: Tieck, Ludwig: Phantasus. Bd. 3. Berlin, 1816, S. 233. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tieck_phantasus03_1816/243>, abgerufen am 21.11.2024.