Tieck, Ludwig: Des Lebens Überfluß. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 3. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–86. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.So gingen die Tage hin, und diese jungen Eheleute entbehrten nichts im Gefühle ihres Glücks, obgleich sie wie die Bettler lebten. An einem Morgen sagte der Gatte: Ich hatte in dieser Nacht einen wunderlichen Traum. Erzähle ihn mir, Liebchen, rief Clara; wir geben auf unsere Träume viel zu wenig, die doch einen so wichtigen Theil von unserm Leben ausmachen. Ich bin überzeugt, wenn viele Menschen diese Erlebnisse der Nacht mehr in ihr Tagesleben hineinzögen, so würde ihnen auch ihr sogenanntes wirkliches Leben weniger traumartig und schlafbefangen sein. Außerdem gehören aber deine Träume mir; denn sie sind Ergüsse deines Herzens und deiner Phantasie, und ich könnte eifersüchtig auf sie werden, wenn ich denke, daß mancher Traum dich von mir trennt, daß du, in ihm verstrickt, mich auf Stunden vergessen kannst, oder daß du dich wohl gar, wenn auch nur in Phantasie, in ein anderes Wesen verliebst. Ist dergleichen nicht schon eine wirkliche Untreue, wenn Gemüth und Einbildung auf dergleichen nur verfallen können? Es kommt nur darauf an, erwiderte Heinrich, ob und in wiefern unsre Träume uns gehören. Wer kann sagen, wie weit sie die geheime Gestaltung unseres Innern enthüllen. Wir sind oft grausam, lügenhaft, feige im Traum, ja ausgemacht niederträchtig, wir morden ein unschuldiges Kind mit Freuden und sind So gingen die Tage hin, und diese jungen Eheleute entbehrten nichts im Gefühle ihres Glücks, obgleich sie wie die Bettler lebten. An einem Morgen sagte der Gatte: Ich hatte in dieser Nacht einen wunderlichen Traum. Erzähle ihn mir, Liebchen, rief Clara; wir geben auf unsere Träume viel zu wenig, die doch einen so wichtigen Theil von unserm Leben ausmachen. Ich bin überzeugt, wenn viele Menschen diese Erlebnisse der Nacht mehr in ihr Tagesleben hineinzögen, so würde ihnen auch ihr sogenanntes wirkliches Leben weniger traumartig und schlafbefangen sein. Außerdem gehören aber deine Träume mir; denn sie sind Ergüsse deines Herzens und deiner Phantasie, und ich könnte eifersüchtig auf sie werden, wenn ich denke, daß mancher Traum dich von mir trennt, daß du, in ihm verstrickt, mich auf Stunden vergessen kannst, oder daß du dich wohl gar, wenn auch nur in Phantasie, in ein anderes Wesen verliebst. Ist dergleichen nicht schon eine wirkliche Untreue, wenn Gemüth und Einbildung auf dergleichen nur verfallen können? Es kommt nur darauf an, erwiderte Heinrich, ob und in wiefern unsre Träume uns gehören. Wer kann sagen, wie weit sie die geheime Gestaltung unseres Innern enthüllen. Wir sind oft grausam, lügenhaft, feige im Traum, ja ausgemacht niederträchtig, wir morden ein unschuldiges Kind mit Freuden und sind <TEI> <text> <body> <pb facs="#f0044"/> <div n="3"> <p>So gingen die Tage hin, und diese jungen Eheleute entbehrten nichts im Gefühle ihres Glücks, obgleich sie wie die Bettler lebten. An einem Morgen sagte der Gatte: Ich hatte in dieser Nacht einen wunderlichen Traum.</p><lb/> <p>Erzähle ihn mir, Liebchen, rief Clara; wir geben auf unsere Träume viel zu wenig, die doch einen so wichtigen Theil von unserm Leben ausmachen. Ich bin überzeugt, wenn viele Menschen diese Erlebnisse der Nacht mehr in ihr Tagesleben hineinzögen, so würde ihnen auch ihr sogenanntes wirkliches Leben weniger traumartig und schlafbefangen sein. Außerdem gehören aber deine Träume mir; denn sie sind Ergüsse deines Herzens und deiner Phantasie, und ich könnte eifersüchtig auf sie werden, wenn ich denke, daß mancher Traum dich von mir trennt, daß du, in ihm verstrickt, mich auf Stunden vergessen kannst, oder daß du dich wohl gar, wenn auch nur in Phantasie, in ein anderes Wesen verliebst. Ist dergleichen nicht schon eine wirkliche Untreue, wenn Gemüth und Einbildung auf dergleichen nur verfallen können?</p><lb/> <p>Es kommt nur darauf an, erwiderte Heinrich, ob und in wiefern unsre Träume uns gehören. Wer kann sagen, wie weit sie die geheime Gestaltung unseres Innern enthüllen. Wir sind oft grausam, lügenhaft, feige im Traum, ja ausgemacht niederträchtig, wir morden ein unschuldiges Kind mit Freuden und sind<lb/></p> </div> </body> </text> </TEI> [0044]
So gingen die Tage hin, und diese jungen Eheleute entbehrten nichts im Gefühle ihres Glücks, obgleich sie wie die Bettler lebten. An einem Morgen sagte der Gatte: Ich hatte in dieser Nacht einen wunderlichen Traum.
Erzähle ihn mir, Liebchen, rief Clara; wir geben auf unsere Träume viel zu wenig, die doch einen so wichtigen Theil von unserm Leben ausmachen. Ich bin überzeugt, wenn viele Menschen diese Erlebnisse der Nacht mehr in ihr Tagesleben hineinzögen, so würde ihnen auch ihr sogenanntes wirkliches Leben weniger traumartig und schlafbefangen sein. Außerdem gehören aber deine Träume mir; denn sie sind Ergüsse deines Herzens und deiner Phantasie, und ich könnte eifersüchtig auf sie werden, wenn ich denke, daß mancher Traum dich von mir trennt, daß du, in ihm verstrickt, mich auf Stunden vergessen kannst, oder daß du dich wohl gar, wenn auch nur in Phantasie, in ein anderes Wesen verliebst. Ist dergleichen nicht schon eine wirkliche Untreue, wenn Gemüth und Einbildung auf dergleichen nur verfallen können?
Es kommt nur darauf an, erwiderte Heinrich, ob und in wiefern unsre Träume uns gehören. Wer kann sagen, wie weit sie die geheime Gestaltung unseres Innern enthüllen. Wir sind oft grausam, lügenhaft, feige im Traum, ja ausgemacht niederträchtig, wir morden ein unschuldiges Kind mit Freuden und sind
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