Tritt im Geist zum Grab oft hin, Siehe dein Gebein versenken; Sprich: Herr! daß ich Erde bin, Lehre du mich selbst bedenken; Lehre du michs jeden Tag: Daß ich weiser werden mag!
Jch beschliesse jetzt einen Monat, und nächstens -- mein Leben. Es ist ein schlechtes Kennzeichen, wenn man bei diesem Ge- danken zurückfährt, da man doch einen Monat, ein Jahr nach dem andern so kaltblütig beschliessen kan. Der Sterbliche feiert sein Geburtsfest, warum nicht auch seinen Sterbetag? Dis ist ja der ungleich größre Geburtstag! der Anfang eines unaufhörli- chen Lebens! Laß uns denn, mein Herz! dieses Fest jetzt in der Stille feiern. Setz dich an mein Sterbebette, und bemüh dich so zu denken, wie du alsdann denken wirst, oder wenigstens soltest.
Ja, ich erblicke mich in meiner Todesgestalt! (welche De- mütigung auch für den Hoffärtigsten!) Der Name meiner letzten Krankheit kan mir gleichgültig seyn: aufgeschwemmt von Wasser- sucht, oder ausgetrocknet von Schwindsucht: -- des Todes Auf- zug ist immer traurig, und wenn man nicht bekant mit ihm ist, fürchterlich. Es giebt noch andre kleine Verzierungen meines Sterbefestes, welche gern meine Blicke auf sich ziehen mögten; aber es sind auch Kleinigkeiten. Es stirbt sich in Schwanfedern nicht sanfter, als auf dem Stroh. Zehn Aerzte und hundert dienstfertige Hände helfen in der wichtigsten Stunde -- nichts. Ich bin alsdann weder ein Bürger der Erde, noch des Himmels: sondern liege zwischen beiden da, und werde gewogen. Eine höchst genaue Wage! wo, selbst die unzeitige Geburten meiner Gedan- ken, eine schwere Last sind. Und welch ein Gedächtniß! welche Schärfe meiner Blicke! Ich sehe und höre alsdann Sünden, wel-
che
Der 31te Januar.
Tritt im Geiſt zum Grab oft hin, Siehe dein Gebein verſenken; Sprich: Herr! daß ich Erde bin, Lehre du mich ſelbſt bedenken; Lehre du michs jeden Tag: Daß ich weiſer werden mag!
Jch beſchlieſſe jetzt einen Monat, und naͤchſtens — mein Leben. Es iſt ein ſchlechtes Kennzeichen, wenn man bei dieſem Ge- danken zuruͤckfaͤhrt, da man doch einen Monat, ein Jahr nach dem andern ſo kaltbluͤtig beſchlieſſen kan. Der Sterbliche feiert ſein Geburtsfeſt, warum nicht auch ſeinen Sterbetag? Dis iſt ja der ungleich groͤßre Geburtstag! der Anfang eines unaufhoͤrli- chen Lebens! Laß uns denn, mein Herz! dieſes Feſt jetzt in der Stille feiern. Setz dich an mein Sterbebette, und bemuͤh dich ſo zu denken, wie du alsdann denken wirſt, oder wenigſtens ſolteſt.
Ja, ich erblicke mich in meiner Todesgeſtalt! (welche De- muͤtigung auch fuͤr den Hoffaͤrtigſten!) Der Name meiner letzten Krankheit kan mir gleichguͤltig ſeyn: aufgeſchwemmt von Waſſer- ſucht, oder ausgetrocknet von Schwindſucht: — des Todes Auf- zug iſt immer traurig, und wenn man nicht bekant mit ihm iſt, fuͤrchterlich. Es giebt noch andre kleine Verzierungen meines Sterbefeſtes, welche gern meine Blicke auf ſich ziehen moͤgten; aber es ſind auch Kleinigkeiten. Es ſtirbt ſich in Schwanfedern nicht ſanfter, als auf dem Stroh. Zehn Aerzte und hundert dienſtfertige Haͤnde helfen in der wichtigſten Stunde — nichts. Ich bin alsdann weder ein Buͤrger der Erde, noch des Himmels: ſondern liege zwiſchen beiden da, und werde gewogen. Eine hoͤchſt genaue Wage! wo, ſelbſt die unzeitige Geburten meiner Gedan- ken, eine ſchwere Laſt ſind. Und welch ein Gedaͤchtniß! welche Schaͤrfe meiner Blicke! Ich ſehe und hoͤre alsdann Suͤnden, wel-
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[63[93]/0100]
Der 31te Januar.
Tritt im Geiſt zum Grab oft hin,
Siehe dein Gebein verſenken;
Sprich: Herr! daß ich Erde bin,
Lehre du mich ſelbſt bedenken;
Lehre du michs jeden Tag:
Daß ich weiſer werden mag!
Jch beſchlieſſe jetzt einen Monat, und naͤchſtens — mein Leben.
Es iſt ein ſchlechtes Kennzeichen, wenn man bei dieſem Ge-
danken zuruͤckfaͤhrt, da man doch einen Monat, ein Jahr nach
dem andern ſo kaltbluͤtig beſchlieſſen kan. Der Sterbliche feiert
ſein Geburtsfeſt, warum nicht auch ſeinen Sterbetag? Dis iſt
ja der ungleich groͤßre Geburtstag! der Anfang eines unaufhoͤrli-
chen Lebens! Laß uns denn, mein Herz! dieſes Feſt jetzt in der Stille
feiern. Setz dich an mein Sterbebette, und bemuͤh dich ſo
zu denken, wie du alsdann denken wirſt, oder wenigſtens ſolteſt.
Ja, ich erblicke mich in meiner Todesgeſtalt! (welche De-
muͤtigung auch fuͤr den Hoffaͤrtigſten!) Der Name meiner letzten
Krankheit kan mir gleichguͤltig ſeyn: aufgeſchwemmt von Waſſer-
ſucht, oder ausgetrocknet von Schwindſucht: — des Todes Auf-
zug iſt immer traurig, und wenn man nicht bekant mit ihm iſt,
fuͤrchterlich. Es giebt noch andre kleine Verzierungen meines
Sterbefeſtes, welche gern meine Blicke auf ſich ziehen moͤgten;
aber es ſind auch Kleinigkeiten. Es ſtirbt ſich in Schwanfedern
nicht ſanfter, als auf dem Stroh. Zehn Aerzte und hundert
dienſtfertige Haͤnde helfen in der wichtigſten Stunde — nichts.
Ich bin alsdann weder ein Buͤrger der Erde, noch des Himmels:
ſondern liege zwiſchen beiden da, und werde gewogen. Eine hoͤchſt
genaue Wage! wo, ſelbſt die unzeitige Geburten meiner Gedan-
ken, eine ſchwere Laſt ſind. Und welch ein Gedaͤchtniß! welche
Schaͤrfe meiner Blicke! Ich ſehe und hoͤre alsdann Suͤnden, wel-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 63[93]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/100>, abgerufen am 21.11.2024.
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