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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 22te Februar.
Hier fand ich angewiesne Pflichten,
Und, wie mein Eifer, so mein Lohn.
Werd ich sie nur getreu verrichten,
So hör ich meinen Nachruhm schon.
Gefällt der Fleiß, mit dem ich diene,
Dem, der mir meine Rolle gab;
So tret ich einst von dieser Bühne
Mit einem frohen Beifall ab.


Welches ist mein Temperament? oder mit andern Wor-
ten: was sind mir insbesondre für Pflichten angewiesen
worden, welche ich zur Ehre des Schöpfers vollführen soll? Wie
unglücklich, wenn wir für alle Tugenden gleich starke Abneigung
hätten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben
Weg entgegen. Einige Laster sind uns schon vermöge unsers Na-
turels zuwider, und wir behalten nur gleichsam halbe Arbeit. Zwo
Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt sie auch scheinen,
so bringt sie der Sünder dennoch unter Einen Punkt, um sich
entschuldigen zu können. Beide Abwege sind gleich gefähelich:

"Mein Temperament macht mich lasterhaft." Freilich sind
einem jeden vermittelst desselben einige Laster geläufiger, als andre.
Der sanguinische oder zur Wollust geneigte Mensch ist mehr zu
Sünden der Unreinigkeit, zur Verschwendung, zu leichtsinnigem
und faulem Geschwätz aufgelegt, als der abgehungerte und mür-
rische Einsiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders,
als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieser? Hin-
gegen drängen sich bei diesem auch Laster ein, welche jenem un-
natürlich scheinen. Dahin: Niederträchtigkeit, unerdittliche
Härte, hündischer Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be-

sondern


Der 22te Februar.
Hier fand ich angewieſne Pflichten,
Und, wie mein Eifer, ſo mein Lohn.
Werd ich ſie nur getreu verrichten,
So hoͤr ich meinen Nachruhm ſchon.
Gefaͤllt der Fleiß, mit dem ich diene,
Dem, der mir meine Rolle gab;
So tret ich einſt von dieſer Buͤhne
Mit einem frohen Beifall ab.


Welches iſt mein Temperament? oder mit andern Wor-
ten: was ſind mir insbeſondre fuͤr Pflichten angewieſen
worden, welche ich zur Ehre des Schoͤpfers vollfuͤhren ſoll? Wie
ungluͤcklich, wenn wir fuͤr alle Tugenden gleich ſtarke Abneigung
haͤtten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben
Weg entgegen. Einige Laſter ſind uns ſchon vermoͤge unſers Na-
turels zuwider, und wir behalten nur gleichſam halbe Arbeit. Zwo
Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt ſie auch ſcheinen,
ſo bringt ſie der Suͤnder dennoch unter Einen Punkt, um ſich
entſchuldigen zu koͤnnen. Beide Abwege ſind gleich gefaͤhelich:

„Mein Temperament macht mich laſterhaft.„ Freilich ſind
einem jeden vermittelſt deſſelben einige Laſter gelaͤufiger, als andre.
Der ſanguiniſche oder zur Wolluſt geneigte Menſch iſt mehr zu
Suͤnden der Unreinigkeit, zur Verſchwendung, zu leichtſinnigem
und faulem Geſchwaͤtz aufgelegt, als der abgehungerte und muͤr-
riſche Einſiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders,
als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieſer? Hin-
gegen draͤngen ſich bei dieſem auch Laſter ein, welche jenem un-
natuͤrlich ſcheinen. Dahin: Niedertraͤchtigkeit, unerdittliche
Haͤrte, huͤndiſcher Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be-

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[109[139]/0146] Der 22te Februar. Hier fand ich angewieſne Pflichten, Und, wie mein Eifer, ſo mein Lohn. Werd ich ſie nur getreu verrichten, So hoͤr ich meinen Nachruhm ſchon. Gefaͤllt der Fleiß, mit dem ich diene, Dem, der mir meine Rolle gab; So tret ich einſt von dieſer Buͤhne Mit einem frohen Beifall ab. Welches iſt mein Temperament? oder mit andern Wor- ten: was ſind mir insbeſondre fuͤr Pflichten angewieſen worden, welche ich zur Ehre des Schoͤpfers vollfuͤhren ſoll? Wie ungluͤcklich, wenn wir fuͤr alle Tugenden gleich ſtarke Abneigung haͤtten! So aber kommt uns manche Tugend auf den halben Weg entgegen. Einige Laſter ſind uns ſchon vermoͤge unſers Na- turels zuwider, und wir behalten nur gleichſam halbe Arbeit. Zwo Klippen muß ich hier vermeiden. So entfernt ſie auch ſcheinen, ſo bringt ſie der Suͤnder dennoch unter Einen Punkt, um ſich entſchuldigen zu koͤnnen. Beide Abwege ſind gleich gefaͤhelich: „Mein Temperament macht mich laſterhaft.„ Freilich ſind einem jeden vermittelſt deſſelben einige Laſter gelaͤufiger, als andre. Der ſanguiniſche oder zur Wolluſt geneigte Menſch iſt mehr zu Suͤnden der Unreinigkeit, zur Verſchwendung, zu leichtſinnigem und faulem Geſchwaͤtz aufgelegt, als der abgehungerte und muͤr- riſche Einſiedler und Geizhals. Aber was folgt hierans anders, als daß jener ein andres Feld anzubauen habe, als dieſer? Hin- gegen draͤngen ſich bei dieſem auch Laſter ein, welche jenem un- natuͤrlich ſcheinen. Dahin: Niedertraͤchtigkeit, unerdittliche Haͤrte, huͤndiſcher Neid. Folglich hat jeder von beiden einen be- ſondern

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 109[139]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/146>, abgerufen am 24.11.2024.