Sprich nicht: Gott kennt mein Herz, Ich hab es ihm verheissen, Mich noch dereinst, mich bald Vom Laster loszureissen; Jetzt ist dis Werk zu schwer: Doch, diese Schwierigkeit, Die heute dich erschreckt, Wächst sie nicht durch die Zeit?
Der Mensch ist meistens ärmer, als er es denkt. Zwar im Geistlichen dünkt er sich gemeiniglich so reich, als er sich im Zeitlichen arm zu seyn dünket. Er glaubet fromm ge- nug zu seyn, wenn er nur kein öffentlicher Dieb, Mörder, oder Bösewicht ist. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines andern sich zu wünschen oder sie durch Betrug zu besitzen: das nennet er weder gemordet noch gestohlen. Ein Gebet, von wel- chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man einschlummert, soll eine gottesdienstliche Handlung seyn. Verläumdungen sind nöthige Unterhaltungen der Gesellschaft! "Wer kan immer spie- len! Wer immer von gleichgültigen Dingen reden? Und über- haupt kan und will Gott es auch so genau nicht nehmen; und end- lich bin ich auch noch lange nicht der größte Verläumder, und vollkommen ist kein Mensch!"
Freund! wie lange wirst du noch diese Sprache führen? Bis du alt bist? Aber der Würgengel gehet dir ja mit gezucktem Schwerdte zur Seite! Das Grab ist leer und die Erde lechzet, die deine Vermoderung trinken soll: morgen vieleicht wirst du sie befriedigen, und den leeren Raum des Grabes füllen! -- Aber
du
Der 17te Maͤrz.
Sprich nicht: Gott kennt mein Herz, Ich hab es ihm verheiſſen, Mich noch dereinſt, mich bald Vom Laſter loszureiſſen; Jetzt iſt dis Werk zu ſchwer: Doch, dieſe Schwierigkeit, Die heute dich erſchreckt, Waͤchſt ſie nicht durch die Zeit?
Der Menſch iſt meiſtens aͤrmer, als er es denkt. Zwar im Geiſtlichen duͤnkt er ſich gemeiniglich ſo reich, als er ſich im Zeitlichen arm zu ſeyn duͤnket. Er glaubet fromm ge- nug zu ſeyn, wenn er nur kein oͤffentlicher Dieb, Moͤrder, oder Boͤſewicht iſt. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines andern ſich zu wuͤnſchen oder ſie durch Betrug zu beſitzen: das nennet er weder gemordet noch geſtohlen. Ein Gebet, von wel- chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man einſchlummert, ſoll eine gottesdienſtliche Handlung ſeyn. Verlaͤumdungen ſind noͤthige Unterhaltungen der Geſellſchaft! „Wer kan immer ſpie- len! Wer immer von gleichguͤltigen Dingen reden? Und uͤber- haupt kan und will Gott es auch ſo genau nicht nehmen; und end- lich bin ich auch noch lange nicht der groͤßte Verlaͤumder, und vollkommen iſt kein Menſch!„
Freund! wie lange wirſt du noch dieſe Sprache fuͤhren? Bis du alt biſt? Aber der Wuͤrgengel gehet dir ja mit gezucktem Schwerdte zur Seite! Das Grab iſt leer und die Erde lechzet, die deine Vermoderung trinken ſoll: morgen vieleicht wirſt du ſie befriedigen, und den leeren Raum des Grabes fuͤllen! — Aber
du
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[159[189]/0196]
Der 17te Maͤrz.
Sprich nicht: Gott kennt mein Herz,
Ich hab es ihm verheiſſen,
Mich noch dereinſt, mich bald
Vom Laſter loszureiſſen;
Jetzt iſt dis Werk zu ſchwer:
Doch, dieſe Schwierigkeit,
Die heute dich erſchreckt,
Waͤchſt ſie nicht durch die Zeit?
Der Menſch iſt meiſtens aͤrmer, als er es denkt.
Zwar im Geiſtlichen duͤnkt er ſich gemeiniglich ſo reich, als
er ſich im Zeitlichen arm zu ſeyn duͤnket. Er glaubet fromm ge-
nug zu ſeyn, wenn er nur kein oͤffentlicher Dieb, Moͤrder, oder
Boͤſewicht iſt. Seinen Feinden den Tod, und die Habe eines
andern ſich zu wuͤnſchen oder ſie durch Betrug zu beſitzen: das
nennet er weder gemordet noch geſtohlen. Ein Gebet, von wel-
chem das Herz nichts weiß, und bei welchem man einſchlummert,
ſoll eine gottesdienſtliche Handlung ſeyn. Verlaͤumdungen ſind
noͤthige Unterhaltungen der Geſellſchaft! „Wer kan immer ſpie-
len! Wer immer von gleichguͤltigen Dingen reden? Und uͤber-
haupt kan und will Gott es auch ſo genau nicht nehmen; und end-
lich bin ich auch noch lange nicht der groͤßte Verlaͤumder, und
vollkommen iſt kein Menſch!„
Freund! wie lange wirſt du noch dieſe Sprache fuͤhren?
Bis du alt biſt? Aber der Wuͤrgengel gehet dir ja mit gezucktem
Schwerdte zur Seite! Das Grab iſt leer und die Erde lechzet,
die deine Vermoderung trinken ſoll: morgen vieleicht wirſt du ſie
befriedigen, und den leeren Raum des Grabes fuͤllen! — Aber
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 159[189]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/196>, abgerufen am 21.11.2024.
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