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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 21te April.
Gott! laß mich immer dahin sehn,
Mit jeglichem so umzugehn,
Wie ichs von ihm begehre:
Damit ich keines Menschen Herz,
Durch meine Härte je mit Schmerz
Und Kümmerniß beschwere.


Die Aerzte geben mancher Moral ein neues Gewicht, und er-
läutern das fünfte Gebot; denn sie entdecken unerkannte
Mordthaten,
wo der Unwissende spasset. Jst der ein Gift-
mischer, der ein auszehrendes Pulver beibringt, so ist es derjeni-
ge auch, welcher Schrecken, Gram und Aergerniß zufüget.
Alle diese Dinge tödten langsam, aber mehrentheils gewiß. Und
wer kan sagen, welcher Körper stark genug sey, diesem Gift zu
widerstehen? Kan nicht zum hundertenmal eine Aergerniß tödt-
lich seyn?

Seelenruh und Vergnügen sind Mittel, das Leben zu erhal-
ten, oder wie man sagt, zu verlängern. Konte ich diese Arzenei,
ohne höhere Pflichten zu übertreten, meinem Nächsten angedeien
lassen: so war es Sünde, wenn ich sie ihm vorenthielt. Thränen
stillen heißt einen Brand löschen: und welch ein Unmensch, wenn
ich frostig vorüberginge! Eine von mir erheiterte Stirn ist doch
wol größres Almosen, als wenn ich zehn vom Hundert nähme,
und für den achzigsten Theil davon ein Altar überkleidete. Mit
den Traurigen weinen, um ihren Kummer zu theilen; Jrrenden
auf den rechten Weg helfen, und Niedergeschlagne aufmuntern:
das heißt: als einsichtsvoller Christ dem fünften Gebot nachleben.
Was wünschte lich jetzt lieber: tausend fürstliche Mahlzeiten ge-

nossen,
P 4


Der 21te April.
Gott! laß mich immer dahin ſehn,
Mit jeglichem ſo umzugehn,
Wie ichs von ihm begehre:
Damit ich keines Menſchen Herz,
Durch meine Haͤrte je mit Schmerz
Und Kuͤmmerniß beſchwere.


Die Aerzte geben mancher Moral ein neues Gewicht, und er-
laͤutern das fuͤnfte Gebot; denn ſie entdecken unerkannte
Mordthaten,
wo der Unwiſſende ſpaſſet. Jſt der ein Gift-
miſcher, der ein auszehrendes Pulver beibringt, ſo iſt es derjeni-
ge auch, welcher Schrecken, Gram und Aergerniß zufuͤget.
Alle dieſe Dinge toͤdten langſam, aber mehrentheils gewiß. Und
wer kan ſagen, welcher Koͤrper ſtark genug ſey, dieſem Gift zu
widerſtehen? Kan nicht zum hundertenmal eine Aergerniß toͤdt-
lich ſeyn?

Seelenruh und Vergnuͤgen ſind Mittel, das Leben zu erhal-
ten, oder wie man ſagt, zu verlaͤngern. Konte ich dieſe Arzenei,
ohne hoͤhere Pflichten zu uͤbertreten, meinem Naͤchſten angedeien
laſſen: ſo war es Suͤnde, wenn ich ſie ihm vorenthielt. Thraͤnen
ſtillen heißt einen Brand loͤſchen: und welch ein Unmenſch, wenn
ich froſtig voruͤberginge! Eine von mir erheiterte Stirn iſt doch
wol groͤßres Almoſen, als wenn ich zehn vom Hundert naͤhme,
und fuͤr den achzigſten Theil davon ein Altar uͤberkleidete. Mit
den Traurigen weinen, um ihren Kummer zu theilen; Jrrenden
auf den rechten Weg helfen, und Niedergeſchlagne aufmuntern:
das heißt: als einſichtsvoller Chriſt dem fuͤnften Gebot nachleben.
Was wuͤnſchte lich jetzt lieber: tauſend fuͤrſtliche Mahlzeiten ge-

noſſen,
P 4
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[231[261]/0268] Der 21te April. Gott! laß mich immer dahin ſehn, Mit jeglichem ſo umzugehn, Wie ichs von ihm begehre: Damit ich keines Menſchen Herz, Durch meine Haͤrte je mit Schmerz Und Kuͤmmerniß beſchwere. Die Aerzte geben mancher Moral ein neues Gewicht, und er- laͤutern das fuͤnfte Gebot; denn ſie entdecken unerkannte Mordthaten, wo der Unwiſſende ſpaſſet. Jſt der ein Gift- miſcher, der ein auszehrendes Pulver beibringt, ſo iſt es derjeni- ge auch, welcher Schrecken, Gram und Aergerniß zufuͤget. Alle dieſe Dinge toͤdten langſam, aber mehrentheils gewiß. Und wer kan ſagen, welcher Koͤrper ſtark genug ſey, dieſem Gift zu widerſtehen? Kan nicht zum hundertenmal eine Aergerniß toͤdt- lich ſeyn? Seelenruh und Vergnuͤgen ſind Mittel, das Leben zu erhal- ten, oder wie man ſagt, zu verlaͤngern. Konte ich dieſe Arzenei, ohne hoͤhere Pflichten zu uͤbertreten, meinem Naͤchſten angedeien laſſen: ſo war es Suͤnde, wenn ich ſie ihm vorenthielt. Thraͤnen ſtillen heißt einen Brand loͤſchen: und welch ein Unmenſch, wenn ich froſtig voruͤberginge! Eine von mir erheiterte Stirn iſt doch wol groͤßres Almoſen, als wenn ich zehn vom Hundert naͤhme, und fuͤr den achzigſten Theil davon ein Altar uͤberkleidete. Mit den Traurigen weinen, um ihren Kummer zu theilen; Jrrenden auf den rechten Weg helfen, und Niedergeſchlagne aufmuntern: das heißt: als einſichtsvoller Chriſt dem fuͤnften Gebot nachleben. Was wuͤnſchte lich jetzt lieber: tauſend fuͤrſtliche Mahlzeiten ge- noſſen, P 4

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 231[261]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/268>, abgerufen am 21.11.2024.