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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 2te Mai.
sich ein Wurm, der erst wenige Wochen sein Daseyn empfand:
ein menschlicher Fuß hat ihn sorgfältig gerädert, ohne ihm den
Gnadenstoß zu geben! Dort liegen die abgestäubten Flügel eines
Schmetterlings, den man einem Kinde zum Spiel oder Zerreis-
sen übergab, wie ein Tiger seinen Jungen ein Lamm übergiebt!
O Menschen! hätten Thiere Verstand, sie würden euch fliehen,
wie ihren Teufel; und einsam müßtet ihr in euren Gärten gehen,
wie ein Tirann in den langen Gängen seines öden Pallasts. Soll
mancher Schmetterling seiner Brut wegen; muß der Ohrwurm
seiner eingebildeten Gefährlichkeit wegen, und der Sperling sei-
nes Diebstals halben sterben: o! so tödtet doch mit Barmherzig-
keit, und lehret eure Kinder Mitleid, wo ein gequältes Geschöpf
zappelt. Das Aengstigen der Kreatur höret Gott. Ein verirrtes
Thier zurecht oder in sein Element weisen, ist mehr werth, als
die feinste Lobrede auf sich selbst. Die Türken kaufen Vögel, um
sie fliegen zu lassen; die Banjanen (gewisse Heiden in Jndien)
tödten nichts und machen Stiftungen für Menschen quälendes
Ungeziefer: gehen sie zu weit? -- o! wir gewiß auch.

Bei aller Behutsamkeit tödten wir den Sommer hindurch
dennoch unzähliche Thierchen. Ganze Völkerschaften werden, ohne
unser Wissen, mit einem Fußtritt bedeckt und stehen in Gefahr,
zerknirscht zu werden. Arme kleine Mitgeschöpfe! daß ihr doch
nicht unter meiner Sole, wie unter einem Gebürge, vergraben
würdet, da euer möglichstes Daseyn nur wenig Tage beträgt! Jch
will mich hüten, die jetzigen Feiertage der Natur nicht mit Mord
zu entweihen; ich will mich vielmehr öfters hinsetzen, eure kleine
Wirthschaft betrachten, eure Arbeiten, Kriege, (denn auch ihr
habt auf der sündigen Erde Streit!) eure Schalkheiten, Erzie-
hung und Lustbarkeiten will ich bewundern. -- Nein! dich will
ich bewundern, Schöpfer und Vater! du lebest in allen deinen Wer-
ken. Fast alle Geschöpfe um mich her schlafen schon! Jch, der
vornemste unter ihnen will mich durch Vernunft unterscheiden,
und dich herzlich danken, daß du uns allen heute so gnädig warst!

Der

Der 2te Mai.
ſich ein Wurm, der erſt wenige Wochen ſein Daſeyn empfand:
ein menſchlicher Fuß hat ihn ſorgfaͤltig geraͤdert, ohne ihm den
Gnadenſtoß zu geben! Dort liegen die abgeſtaͤubten Fluͤgel eines
Schmetterlings, den man einem Kinde zum Spiel oder Zerreiſ-
ſen uͤbergab, wie ein Tiger ſeinen Jungen ein Lamm uͤbergiebt!
O Menſchen! haͤtten Thiere Verſtand, ſie wuͤrden euch fliehen,
wie ihren Teufel; und einſam muͤßtet ihr in euren Gaͤrten gehen,
wie ein Tirann in den langen Gaͤngen ſeines oͤden Pallaſts. Soll
mancher Schmetterling ſeiner Brut wegen; muß der Ohrwurm
ſeiner eingebildeten Gefaͤhrlichkeit wegen, und der Sperling ſei-
nes Diebſtals halben ſterben: o! ſo toͤdtet doch mit Barmherzig-
keit, und lehret eure Kinder Mitleid, wo ein gequaͤltes Geſchoͤpf
zappelt. Das Aengſtigen der Kreatur hoͤret Gott. Ein verirrtes
Thier zurecht oder in ſein Element weiſen, iſt mehr werth, als
die feinſte Lobrede auf ſich ſelbſt. Die Tuͤrken kaufen Voͤgel, um
ſie fliegen zu laſſen; die Banjanen (gewiſſe Heiden in Jndien)
toͤdten nichts und machen Stiftungen fuͤr Menſchen quaͤlendes
Ungeziefer: gehen ſie zu weit? — o! wir gewiß auch.

Bei aller Behutſamkeit toͤdten wir den Sommer hindurch
dennoch unzaͤhliche Thierchen. Ganze Voͤlkerſchaften werden, ohne
unſer Wiſſen, mit einem Fußtritt bedeckt und ſtehen in Gefahr,
zerknirſcht zu werden. Arme kleine Mitgeſchoͤpfe! daß ihr doch
nicht unter meiner Sole, wie unter einem Gebuͤrge, vergraben
wuͤrdet, da euer moͤglichſtes Daſeyn nur wenig Tage betraͤgt! Jch
will mich huͤten, die jetzigen Feiertage der Natur nicht mit Mord
zu entweihen; ich will mich vielmehr oͤfters hinſetzen, eure kleine
Wirthſchaft betrachten, eure Arbeiten, Kriege, (denn auch ihr
habt auf der ſuͤndigen Erde Streit!) eure Schalkheiten, Erzie-
hung und Luſtbarkeiten will ich bewundern. — Nein! dich will
ich bewundern, Schoͤpfer und Vater! du lebeſt in allen deinen Wer-
ken. Faſt alle Geſchoͤpfe um mich her ſchlafen ſchon! Jch, der
vornemſte unter ihnen will mich durch Vernunft unterſcheiden,
und dich herzlich danken, daß du uns allen heute ſo gnaͤdig warſt!

Der
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[256[286]/0293] Der 2te Mai. ſich ein Wurm, der erſt wenige Wochen ſein Daſeyn empfand: ein menſchlicher Fuß hat ihn ſorgfaͤltig geraͤdert, ohne ihm den Gnadenſtoß zu geben! Dort liegen die abgeſtaͤubten Fluͤgel eines Schmetterlings, den man einem Kinde zum Spiel oder Zerreiſ- ſen uͤbergab, wie ein Tiger ſeinen Jungen ein Lamm uͤbergiebt! O Menſchen! haͤtten Thiere Verſtand, ſie wuͤrden euch fliehen, wie ihren Teufel; und einſam muͤßtet ihr in euren Gaͤrten gehen, wie ein Tirann in den langen Gaͤngen ſeines oͤden Pallaſts. Soll mancher Schmetterling ſeiner Brut wegen; muß der Ohrwurm ſeiner eingebildeten Gefaͤhrlichkeit wegen, und der Sperling ſei- nes Diebſtals halben ſterben: o! ſo toͤdtet doch mit Barmherzig- keit, und lehret eure Kinder Mitleid, wo ein gequaͤltes Geſchoͤpf zappelt. Das Aengſtigen der Kreatur hoͤret Gott. Ein verirrtes Thier zurecht oder in ſein Element weiſen, iſt mehr werth, als die feinſte Lobrede auf ſich ſelbſt. Die Tuͤrken kaufen Voͤgel, um ſie fliegen zu laſſen; die Banjanen (gewiſſe Heiden in Jndien) toͤdten nichts und machen Stiftungen fuͤr Menſchen quaͤlendes Ungeziefer: gehen ſie zu weit? — o! wir gewiß auch. Bei aller Behutſamkeit toͤdten wir den Sommer hindurch dennoch unzaͤhliche Thierchen. Ganze Voͤlkerſchaften werden, ohne unſer Wiſſen, mit einem Fußtritt bedeckt und ſtehen in Gefahr, zerknirſcht zu werden. Arme kleine Mitgeſchoͤpfe! daß ihr doch nicht unter meiner Sole, wie unter einem Gebuͤrge, vergraben wuͤrdet, da euer moͤglichſtes Daſeyn nur wenig Tage betraͤgt! Jch will mich huͤten, die jetzigen Feiertage der Natur nicht mit Mord zu entweihen; ich will mich vielmehr oͤfters hinſetzen, eure kleine Wirthſchaft betrachten, eure Arbeiten, Kriege, (denn auch ihr habt auf der ſuͤndigen Erde Streit!) eure Schalkheiten, Erzie- hung und Luſtbarkeiten will ich bewundern. — Nein! dich will ich bewundern, Schoͤpfer und Vater! du lebeſt in allen deinen Wer- ken. Faſt alle Geſchoͤpfe um mich her ſchlafen ſchon! Jch, der vornemſte unter ihnen will mich durch Vernunft unterſcheiden, und dich herzlich danken, daß du uns allen heute ſo gnaͤdig warſt! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 256[286]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/293>, abgerufen am 21.11.2024.