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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 10te Mai.
Ungläubige sind blind.
Sie müssen Dinge glauben,
Die Ruh und Himmel rauben,
Und ganz unglaublich sind.


Unsre Ungläubigen beschweren sich immer über die Unglaublich-
keit mancher Religionswahrheiten, und sie mögten uns gerne
bereden, daß ihr Geist zu stark sey, etwas unerwiesenes oder nur
unwahrscheinliches zu glauben: aber gewiß, der einfältigste Christ
nimt nichts so blindlings an, als der leichtgläubige Unglaube
es thut.

Was ist glaublicher: daß der heilige und gerechte Gott die
Sünden strafen wird, oder nicht? Jm ersten Falle verdient er
Verehrung, im andern Klagen und Vorwürfe. Der gnädige
Gott, der selbst dem verächtlichsten Thiere sein Futter besorgt,
und seine milde Hand zu rechter Zeit aufthut; er, der für den
Körper der Menschen so viel Wohlfart und Vergnügen erschuf:
ist es glaublich, daß er den Geistern seiner edelsten Geschöpfe auf
Erden, nicht das geringste zum Unterricht, zur Stillung ihres
Gewissens, und zur Befestigung ihrer schwankenden Hofnung
erschaffen oder veranstaltet habe? Es ist weit glaublicher, daß eine
göttliche Offenbarung vorhanden sey, als daß der Glaube der
Hottentotten, oder die natürliche Religion, (wofern sich eine ohne
vorhergegangene Offenbarung denken läßt) die höchste Stuffe
unsrer gelstlichen Glückseligkeit seyn solte. Hauptsächlich ist der
Gekreuzigte den Juden ein Aergerniß, und den Weisen eine Thor-
heit: aber warum denn? Nicht wahr, jene würden kein Aerger-
niß an ihm genommen haben, wenn er Europa und Asien erobert,
und jedem Juden eine Provinz geschenkt hätte? Und diese würden
ihn bewundern, (fast so sehr als sich selber) hätte er in tief erson-
nenen Schlüssen, oder mit glänzendem Witz, Regeln der Politik

entworfen,


Der 10te Mai.
Unglaͤubige ſind blind.
Sie muͤſſen Dinge glauben,
Die Ruh und Himmel rauben,
Und ganz unglaublich ſind.


Unſre Unglaͤubigen beſchweren ſich immer uͤber die Unglaublich-
keit mancher Religionswahrheiten, und ſie moͤgten uns gerne
bereden, daß ihr Geiſt zu ſtark ſey, etwas unerwieſenes oder nur
unwahrſcheinliches zu glauben: aber gewiß, der einfaͤltigſte Chriſt
nimt nichts ſo blindlings an, als der leichtglaͤubige Unglaube
es thut.

Was iſt glaublicher: daß der heilige und gerechte Gott die
Suͤnden ſtrafen wird, oder nicht? Jm erſten Falle verdient er
Verehrung, im andern Klagen und Vorwuͤrfe. Der gnaͤdige
Gott, der ſelbſt dem veraͤchtlichſten Thiere ſein Futter beſorgt,
und ſeine milde Hand zu rechter Zeit aufthut; er, der fuͤr den
Koͤrper der Menſchen ſo viel Wohlfart und Vergnuͤgen erſchuf:
iſt es glaublich, daß er den Geiſtern ſeiner edelſten Geſchoͤpfe auf
Erden, nicht das geringſte zum Unterricht, zur Stillung ihres
Gewiſſens, und zur Befeſtigung ihrer ſchwankenden Hofnung
erſchaffen oder veranſtaltet habe? Es iſt weit glaublicher, daß eine
goͤttliche Offenbarung vorhanden ſey, als daß der Glaube der
Hottentotten, oder die natuͤrliche Religion, (wofern ſich eine ohne
vorhergegangene Offenbarung denken laͤßt) die hoͤchſte Stuffe
unſrer gelſtlichen Gluͤckſeligkeit ſeyn ſolte. Hauptſaͤchlich iſt der
Gekreuzigte den Juden ein Aergerniß, und den Weiſen eine Thor-
heit: aber warum denn? Nicht wahr, jene wuͤrden kein Aerger-
niß an ihm genommen haben, wenn er Europa und Aſien erobert,
und jedem Juden eine Provinz geſchenkt haͤtte? Und dieſe wuͤrden
ihn bewundern, (faſt ſo ſehr als ſich ſelber) haͤtte er in tief erſon-
nenen Schluͤſſen, oder mit glaͤnzendem Witz, Regeln der Politik

entworfen,
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[271[301]/0308] Der 10te Mai. Unglaͤubige ſind blind. Sie muͤſſen Dinge glauben, Die Ruh und Himmel rauben, Und ganz unglaublich ſind. Unſre Unglaͤubigen beſchweren ſich immer uͤber die Unglaublich- keit mancher Religionswahrheiten, und ſie moͤgten uns gerne bereden, daß ihr Geiſt zu ſtark ſey, etwas unerwieſenes oder nur unwahrſcheinliches zu glauben: aber gewiß, der einfaͤltigſte Chriſt nimt nichts ſo blindlings an, als der leichtglaͤubige Unglaube es thut. Was iſt glaublicher: daß der heilige und gerechte Gott die Suͤnden ſtrafen wird, oder nicht? Jm erſten Falle verdient er Verehrung, im andern Klagen und Vorwuͤrfe. Der gnaͤdige Gott, der ſelbſt dem veraͤchtlichſten Thiere ſein Futter beſorgt, und ſeine milde Hand zu rechter Zeit aufthut; er, der fuͤr den Koͤrper der Menſchen ſo viel Wohlfart und Vergnuͤgen erſchuf: iſt es glaublich, daß er den Geiſtern ſeiner edelſten Geſchoͤpfe auf Erden, nicht das geringſte zum Unterricht, zur Stillung ihres Gewiſſens, und zur Befeſtigung ihrer ſchwankenden Hofnung erſchaffen oder veranſtaltet habe? Es iſt weit glaublicher, daß eine goͤttliche Offenbarung vorhanden ſey, als daß der Glaube der Hottentotten, oder die natuͤrliche Religion, (wofern ſich eine ohne vorhergegangene Offenbarung denken laͤßt) die hoͤchſte Stuffe unſrer gelſtlichen Gluͤckſeligkeit ſeyn ſolte. Hauptſaͤchlich iſt der Gekreuzigte den Juden ein Aergerniß, und den Weiſen eine Thor- heit: aber warum denn? Nicht wahr, jene wuͤrden kein Aerger- niß an ihm genommen haben, wenn er Europa und Aſien erobert, und jedem Juden eine Provinz geſchenkt haͤtte? Und dieſe wuͤrden ihn bewundern, (faſt ſo ſehr als ſich ſelber) haͤtte er in tief erſon- nenen Schluͤſſen, oder mit glaͤnzendem Witz, Regeln der Politik entworfen,

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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 271[301]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/308>, abgerufen am 24.11.2024.