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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 14te Mai.

Diese Nacht kan die letzte seyn -- genug! um meine Maaß-
regeln so zu nehmen, daß sie es für mich ohne Schaden seyn könne.
Jch muß mich also mit der Welt abfinden, damit sie mich dorten
nicht ungestüm mahne. Meine Schulden müssen berichtiget seyn
an Freunde und Feinde: damit diese nicht meinen Sarg beschim-
pfen, oder sich über meinen Tod freuen; jene aber redlich ihn be-
weinen mögen. Mein Testament muß geschlossen, und meine
Seele am redlichsten darin bedacht seyn. Jeder Rechtschafne,
der m inen Tod höret, muß sagen können: mein Ende sey, wie
dieses Ende!

Grosser Gott! wie klein sind noch die Anstalten bei mir, um
diese Nacht so sterben zu können. Ach! welch verschonendes Er-
barmen, daß du mich noch immer von einer Nacht zur andern
erhältst! Jch würde überrascht, wenn ich jetzt schleunig eine lange
Reise antreten solte: aber die Reise zur Ewigkeit! O wie viele
Rechnungen sind da noch vorher durchzusehen, wie viele Schuld-
leute und beleidigte abzufinden, und am meisten du, mein Gott!
dessen Güte und Langmut ich tausendmal auf Mutwillen zog! Jch
solte diese Nacht sterben? O bei diesem Gedanken stürmen Ge-
wissensbisse, Zweifel und Schreckbilder von allen Seiten auf mich
herein! Jch Armer! Felsen drohen über mir den Einsturz, und
Fluten rauschen daher, mich zu verschlingen! Jch sterben? Rich-
ter! wo soll ich hingehen vor deinem Geist, und wo soll ich hin-
fliehen vor deinem Angesicht! Wohin ich undaukbarer Frevler!
Wohin in der Todesnoth! o Jesu!

Zu dir flieh ich,
Versioß mich nicht,
Wie ich's wol hab verdienet.
Ach Gott! zürne nicht,
Geh nicht ins Gericht:
Dein Sohn hat mich versühnet.
Der
Der 14te Mai.

Dieſe Nacht kan die letzte ſeyn — genug! um meine Maaß-
regeln ſo zu nehmen, daß ſie es fuͤr mich ohne Schaden ſeyn koͤnne.
Jch muß mich alſo mit der Welt abfinden, damit ſie mich dorten
nicht ungeſtuͤm mahne. Meine Schulden muͤſſen berichtiget ſeyn
an Freunde und Feinde: damit dieſe nicht meinen Sarg beſchim-
pfen, oder ſich uͤber meinen Tod freuen; jene aber redlich ihn be-
weinen moͤgen. Mein Teſtament muß geſchloſſen, und meine
Seele am redlichſten darin bedacht ſeyn. Jeder Rechtſchafne,
der m inen Tod hoͤret, muß ſagen koͤnnen: mein Ende ſey, wie
dieſes Ende!

Groſſer Gott! wie klein ſind noch die Anſtalten bei mir, um
dieſe Nacht ſo ſterben zu koͤnnen. Ach! welch verſchonendes Er-
barmen, daß du mich noch immer von einer Nacht zur andern
erhaͤltſt! Jch wuͤrde uͤberraſcht, wenn ich jetzt ſchleunig eine lange
Reiſe antreten ſolte: aber die Reiſe zur Ewigkeit! O wie viele
Rechnungen ſind da noch vorher durchzuſehen, wie viele Schuld-
leute und beleidigte abzufinden, und am meiſten du, mein Gott!
deſſen Guͤte und Langmut ich tauſendmal auf Mutwillen zog! Jch
ſolte dieſe Nacht ſterben? O bei dieſem Gedanken ſtuͤrmen Ge-
wiſſensbiſſe, Zweifel und Schreckbilder von allen Seiten auf mich
herein! Jch Armer! Felſen drohen uͤber mir den Einſturz, und
Fluten rauſchen daher, mich zu verſchlingen! Jch ſterben? Rich-
ter! wo ſoll ich hingehen vor deinem Geiſt, und wo ſoll ich hin-
fliehen vor deinem Angeſicht! Wohin ich undaukbarer Frevler!
Wohin in der Todesnoth! o Jeſu!

Zu dir flieh ich,
Verſioß mich nicht,
Wie ich's wol hab verdienet.
Ach Gott! zuͤrne nicht,
Geh nicht ins Gericht:
Dein Sohn hat mich verſuͤhnet.
Der
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[280[310]/0317] Der 14te Mai. Dieſe Nacht kan die letzte ſeyn — genug! um meine Maaß- regeln ſo zu nehmen, daß ſie es fuͤr mich ohne Schaden ſeyn koͤnne. Jch muß mich alſo mit der Welt abfinden, damit ſie mich dorten nicht ungeſtuͤm mahne. Meine Schulden muͤſſen berichtiget ſeyn an Freunde und Feinde: damit dieſe nicht meinen Sarg beſchim- pfen, oder ſich uͤber meinen Tod freuen; jene aber redlich ihn be- weinen moͤgen. Mein Teſtament muß geſchloſſen, und meine Seele am redlichſten darin bedacht ſeyn. Jeder Rechtſchafne, der m inen Tod hoͤret, muß ſagen koͤnnen: mein Ende ſey, wie dieſes Ende! Groſſer Gott! wie klein ſind noch die Anſtalten bei mir, um dieſe Nacht ſo ſterben zu koͤnnen. Ach! welch verſchonendes Er- barmen, daß du mich noch immer von einer Nacht zur andern erhaͤltſt! Jch wuͤrde uͤberraſcht, wenn ich jetzt ſchleunig eine lange Reiſe antreten ſolte: aber die Reiſe zur Ewigkeit! O wie viele Rechnungen ſind da noch vorher durchzuſehen, wie viele Schuld- leute und beleidigte abzufinden, und am meiſten du, mein Gott! deſſen Guͤte und Langmut ich tauſendmal auf Mutwillen zog! Jch ſolte dieſe Nacht ſterben? O bei dieſem Gedanken ſtuͤrmen Ge- wiſſensbiſſe, Zweifel und Schreckbilder von allen Seiten auf mich herein! Jch Armer! Felſen drohen uͤber mir den Einſturz, und Fluten rauſchen daher, mich zu verſchlingen! Jch ſterben? Rich- ter! wo ſoll ich hingehen vor deinem Geiſt, und wo ſoll ich hin- fliehen vor deinem Angeſicht! Wohin ich undaukbarer Frevler! Wohin in der Todesnoth! o Jeſu! Zu dir flieh ich, Verſioß mich nicht, Wie ich's wol hab verdienet. Ach Gott! zuͤrne nicht, Geh nicht ins Gericht: Dein Sohn hat mich verſuͤhnet. Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 280[310]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/317>, abgerufen am 21.11.2024.