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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 19te Mai.
te: die Natur, ohne in Verbindung mit Gott, ist todt. Jch
sehe die Blumen-und Lebenvolle Wiese: aber sie wird mir
immer schöner, je genauer ich sie kennen lerne. Der Einfältige
nennet ihr Kleid Gras; der Klügere unterscheidet wol zehn Arten
des Grases und der Blumen, der Kräuterkenner siehet noch zehn-
mal mehr, und weiß eines jeden Namen und Eigenschaft. Jst
für ihn diese Aue nicht schöner, als für den, der nur besorgt ist,
daß das Gras seine Schuhe nicht benetzen möge? So höret der
Unverständige ein bloses Geschwirr im Walde; der Jäger, oder
ein andrer Kenner aber, unterscheidet den Gesang jedes Vogels,
und verstehet am veränderten Locken und Rufen, die Absichten
oder Bedürfnisse dieser kleinen Sänger.

Woher kam das? wozu dienet dis? woraus bestehet es?
wie erreicht Gott seine Absichten dadurch? -- Das sind Fragen,
welche uns den Schlüssel zur wahren Schönheit der Natur, und
folglich zum Lobe Gottes geben. Könten wir den Lebenslauf einer
einzigen Lerche oder Wachtel wissen; wie oft sie einer Lebensgefahr
entging, wie kümmerlich ihr bisweilen der Unterhalt zugemessen
ward; was sie auf ihrer weiten Reise über das Weltmeer, was
sie in uns unbekanten Ländern ersuhr; wie oft Schrecken, Freude
und Krankheit bei ihr wechselten: -- nicht wahr, das wäre le-
senswerther, als die wiederkäuende Mordgeschichte gekrönter Ti-
rannen? Die Weisheit, Allmacht und Güte Gottes würde uns
gewiß in die Augen strahlen, wenn wir seine Werke nicht so oben-
hin betrachteten.

Dich will ich täglich in deinen Werken sehen, du allein se-
henswürdiger Gott! Zwar bleibt das meiste mir verborgen: aber
auch dämmerndes Licht ist hinlänglich, mich über deine Grösse in
Erstaunen zu setzen. Herr! wie sind deine Werke so groß und
viel! Du hast sie alle weislich geordnet, und die Erde ist voll dei-
ner Güter! Wie groß bin auch ich, daß ich dich dereinst von An-
gesicht zu Angesicht sehen soll!

Der

Der 19te Mai.
te: die Natur, ohne in Verbindung mit Gott, iſt todt. Jch
ſehe die Blumen-und Lebenvolle Wieſe: aber ſie wird mir
immer ſchoͤner, je genauer ich ſie kennen lerne. Der Einfaͤltige
nennet ihr Kleid Gras; der Kluͤgere unterſcheidet wol zehn Arten
des Graſes und der Blumen, der Kraͤuterkenner ſiehet noch zehn-
mal mehr, und weiß eines jeden Namen und Eigenſchaft. Jſt
fuͤr ihn dieſe Aue nicht ſchoͤner, als fuͤr den, der nur beſorgt iſt,
daß das Gras ſeine Schuhe nicht benetzen moͤge? So hoͤret der
Unverſtaͤndige ein bloſes Geſchwirr im Walde; der Jaͤger, oder
ein andrer Kenner aber, unterſcheidet den Geſang jedes Vogels,
und verſtehet am veraͤnderten Locken und Rufen, die Abſichten
oder Beduͤrfniſſe dieſer kleinen Saͤnger.

Woher kam das? wozu dienet dis? woraus beſtehet es?
wie erreicht Gott ſeine Abſichten dadurch? — Das ſind Fragen,
welche uns den Schluͤſſel zur wahren Schoͤnheit der Natur, und
folglich zum Lobe Gottes geben. Koͤnten wir den Lebenslauf einer
einzigen Lerche oder Wachtel wiſſen; wie oft ſie einer Lebensgefahr
entging, wie kuͤmmerlich ihr bisweilen der Unterhalt zugemeſſen
ward; was ſie auf ihrer weiten Reiſe uͤber das Weltmeer, was
ſie in uns unbekanten Laͤndern erſuhr; wie oft Schrecken, Freude
und Krankheit bei ihr wechſelten: — nicht wahr, das waͤre le-
ſenswerther, als die wiederkaͤuende Mordgeſchichte gekroͤnter Ti-
rannen? Die Weisheit, Allmacht und Guͤte Gottes wuͤrde uns
gewiß in die Augen ſtrahlen, wenn wir ſeine Werke nicht ſo oben-
hin betrachteten.

Dich will ich taͤglich in deinen Werken ſehen, du allein ſe-
henswuͤrdiger Gott! Zwar bleibt das meiſte mir verborgen: aber
auch daͤmmerndes Licht iſt hinlaͤnglich, mich uͤber deine Groͤſſe in
Erſtaunen zu ſetzen. Herr! wie ſind deine Werke ſo groß und
viel! Du haſt ſie alle weislich geordnet, und die Erde iſt voll dei-
ner Guͤter! Wie groß bin auch ich, daß ich dich dereinſt von An-
geſicht zu Angeſicht ſehen ſoll!

Der
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[290[320]/0327] Der 19te Mai. te: die Natur, ohne in Verbindung mit Gott, iſt todt. Jch ſehe die Blumen-und Lebenvolle Wieſe: aber ſie wird mir immer ſchoͤner, je genauer ich ſie kennen lerne. Der Einfaͤltige nennet ihr Kleid Gras; der Kluͤgere unterſcheidet wol zehn Arten des Graſes und der Blumen, der Kraͤuterkenner ſiehet noch zehn- mal mehr, und weiß eines jeden Namen und Eigenſchaft. Jſt fuͤr ihn dieſe Aue nicht ſchoͤner, als fuͤr den, der nur beſorgt iſt, daß das Gras ſeine Schuhe nicht benetzen moͤge? So hoͤret der Unverſtaͤndige ein bloſes Geſchwirr im Walde; der Jaͤger, oder ein andrer Kenner aber, unterſcheidet den Geſang jedes Vogels, und verſtehet am veraͤnderten Locken und Rufen, die Abſichten oder Beduͤrfniſſe dieſer kleinen Saͤnger. Woher kam das? wozu dienet dis? woraus beſtehet es? wie erreicht Gott ſeine Abſichten dadurch? — Das ſind Fragen, welche uns den Schluͤſſel zur wahren Schoͤnheit der Natur, und folglich zum Lobe Gottes geben. Koͤnten wir den Lebenslauf einer einzigen Lerche oder Wachtel wiſſen; wie oft ſie einer Lebensgefahr entging, wie kuͤmmerlich ihr bisweilen der Unterhalt zugemeſſen ward; was ſie auf ihrer weiten Reiſe uͤber das Weltmeer, was ſie in uns unbekanten Laͤndern erſuhr; wie oft Schrecken, Freude und Krankheit bei ihr wechſelten: — nicht wahr, das waͤre le- ſenswerther, als die wiederkaͤuende Mordgeſchichte gekroͤnter Ti- rannen? Die Weisheit, Allmacht und Guͤte Gottes wuͤrde uns gewiß in die Augen ſtrahlen, wenn wir ſeine Werke nicht ſo oben- hin betrachteten. Dich will ich taͤglich in deinen Werken ſehen, du allein ſe- henswuͤrdiger Gott! Zwar bleibt das meiſte mir verborgen: aber auch daͤmmerndes Licht iſt hinlaͤnglich, mich uͤber deine Groͤſſe in Erſtaunen zu ſetzen. Herr! wie ſind deine Werke ſo groß und viel! Du haſt ſie alle weislich geordnet, und die Erde iſt voll dei- ner Guͤter! Wie groß bin auch ich, daß ich dich dereinſt von An- geſicht zu Angeſicht ſehen ſoll! Der

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 290[320]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/327>, abgerufen am 21.11.2024.