Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

Bild:
<< vorherige Seite


Der 25te Mai.
Singt dem göttlichen Propheten,
Der den Trost vom Himmel bringet,
Daß der Geist sich aufwärts schwinget:
Erd[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]nsöhne! singt ihm Dank!


Ja, mein Erlöser! ich verliere mich in meine eigene Grösse,
wenn ich nachdenke, zu welcher Höhe du mich erhoben hast.
Ein Mensch zu seyn, erfodert den innigsten Dank: aber Dank
für die Erlösung durch Jesum:
das erhebt den Menschen
über sich selbst. Jch konte auch von jüdischen oder heidnischen
Eltern geboren seyn: Gott! ich zittre für Freuden, daß du mir
die Bestimmung eines Christen gabst. Als du in deinem Ver-
stande von Ewigkeit her die Seelen aller Menschen sahst, und ih-
nen ihr Schicksal abwogst: da ging auch ich vor deinem Ange-
sichte vorüber. Unter der grossen Menge riefst du mich hervor
und sprachst: sey einst ein Christ!

Rauhe Sitten, Aberglauben, und wenn ich sehr scharfsin-
nig wäre, bange Ungewißheit; das alles würde mein Erbtheil
seyn, wenn ich in einer andern Religion geboren wäre. Meine
Erziehung, Einsichten, Denkungsart und äussern Wohlstand,
habe ich dem Christenthum zu verdanken; einer Erstgeburt, wel-
che, wofern ich nicht sehr abgetrieben von der Sündenjagd, und
sehr hungrig nach irdischen Gütern bin, mir schätzbarer seyn muß,
als die höchste Geburt, oder als die reichste Goldminen. Jerusa-
lem, Mecca, Rom, Höhen, Haine und Thäler -- ich bin an
keinen Ort gebunden. Jesus hat mir durch seinen Tod den Ein-
tritt ins Allerheiligste eröfnet: ich kan allenthalben mein Herz zum
Opfer bringen. Der allgegenwärtige Sohn Gottes bietet mir an
jedem Ort reichen Ablaß meiner Sünden an. Er hat erworben:
ich darf nur genehm halten, so ist der Himmel mein.

Wie


Der 25te Mai.
Singt dem goͤttlichen Propheten,
Der den Troſt vom Himmel bringet,
Daß der Geiſt ſich aufwaͤrts ſchwinget:
Erd[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]nſoͤhne! ſingt ihm Dank!


Ja, mein Erloͤſer! ich verliere mich in meine eigene Groͤſſe,
wenn ich nachdenke, zu welcher Hoͤhe du mich erhoben haſt.
Ein Menſch zu ſeyn, erfodert den innigſten Dank: aber Dank
fuͤr die Erloͤſung durch Jeſum:
das erhebt den Menſchen
uͤber ſich ſelbſt. Jch konte auch von juͤdiſchen oder heidniſchen
Eltern geboren ſeyn: Gott! ich zittre fuͤr Freuden, daß du mir
die Beſtimmung eines Chriſten gabſt. Als du in deinem Ver-
ſtande von Ewigkeit her die Seelen aller Menſchen ſahſt, und ih-
nen ihr Schickſal abwogſt: da ging auch ich vor deinem Ange-
ſichte voruͤber. Unter der groſſen Menge riefſt du mich hervor
und ſprachſt: ſey einſt ein Chriſt!

Rauhe Sitten, Aberglauben, und wenn ich ſehr ſcharfſin-
nig waͤre, bange Ungewißheit; das alles wuͤrde mein Erbtheil
ſeyn, wenn ich in einer andern Religion geboren waͤre. Meine
Erziehung, Einſichten, Denkungsart und aͤuſſern Wohlſtand,
habe ich dem Chriſtenthum zu verdanken; einer Erſtgeburt, wel-
che, wofern ich nicht ſehr abgetrieben von der Suͤndenjagd, und
ſehr hungrig nach irdiſchen Guͤtern bin, mir ſchaͤtzbarer ſeyn muß,
als die hoͤchſte Geburt, oder als die reichſte Goldminen. Jeruſa-
lem, Mecca, Rom, Hoͤhen, Haine und Thaͤler — ich bin an
keinen Ort gebunden. Jeſus hat mir durch ſeinen Tod den Ein-
tritt ins Allerheiligſte eroͤfnet: ich kan allenthalben mein Herz zum
Opfer bringen. Der allgegenwaͤrtige Sohn Gottes bietet mir an
jedem Ort reichen Ablaß meiner Suͤnden an. Er hat erworben:
ich darf nur genehm halten, ſo iſt der Himmel mein.

Wie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0338" n="301[331]"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <div n="3">
            <head> <hi rendition="#b">Der 25<hi rendition="#sup">te</hi> Mai.</hi> </head><lb/>
            <lg type="poem">
              <l><hi rendition="#in">S</hi>ingt dem go&#x0364;ttlichen Propheten,</l><lb/>
              <l>Der den Tro&#x017F;t vom Himmel bringet,</l><lb/>
              <l>Daß der Gei&#x017F;t &#x017F;ich aufwa&#x0364;rts &#x017F;chwinget:</l><lb/>
              <l>Erd<gap reason="illegible" unit="chars" quantity="1"/>n&#x017F;o&#x0364;hne! &#x017F;ingt ihm Dank!</l>
            </lg><lb/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p><hi rendition="#in">J</hi>a, mein Erlo&#x0364;&#x017F;er! ich verliere mich in meine eigene Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
wenn ich nachdenke, zu welcher Ho&#x0364;he du mich erhoben ha&#x017F;t.<lb/>
Ein Men&#x017F;ch zu &#x017F;eyn, erfodert den innig&#x017F;ten Dank: aber <hi rendition="#fr">Dank<lb/>
fu&#x0364;r die Erlo&#x0364;&#x017F;ung durch Je&#x017F;um:</hi> das erhebt den Men&#x017F;chen<lb/>
u&#x0364;ber &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t. Jch konte auch von ju&#x0364;di&#x017F;chen oder heidni&#x017F;chen<lb/>
Eltern geboren &#x017F;eyn: Gott! ich zittre fu&#x0364;r Freuden, daß du mir<lb/>
die Be&#x017F;timmung eines Chri&#x017F;ten gab&#x017F;t. Als du in deinem Ver-<lb/>
&#x017F;tande von Ewigkeit her die Seelen aller Men&#x017F;chen &#x017F;ah&#x017F;t, und ih-<lb/>
nen ihr Schick&#x017F;al abwog&#x017F;t: da ging auch ich vor deinem Ange-<lb/>
&#x017F;ichte voru&#x0364;ber. Unter der gro&#x017F;&#x017F;en Menge rief&#x017F;t du mich hervor<lb/>
und &#x017F;prach&#x017F;t: &#x017F;ey ein&#x017F;t ein Chri&#x017F;t!</p><lb/>
            <p>Rauhe Sitten, Aberglauben, und wenn ich &#x017F;ehr &#x017F;charf&#x017F;in-<lb/>
nig wa&#x0364;re, bange Ungewißheit; das alles wu&#x0364;rde mein Erbtheil<lb/>
&#x017F;eyn, wenn ich in einer andern Religion geboren wa&#x0364;re. Meine<lb/>
Erziehung, Ein&#x017F;ichten, Denkungsart und a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern Wohl&#x017F;tand,<lb/>
habe ich dem Chri&#x017F;tenthum zu verdanken; einer Er&#x017F;tgeburt, wel-<lb/>
che, wofern ich nicht &#x017F;ehr abgetrieben von der Su&#x0364;ndenjagd, und<lb/>
&#x017F;ehr hungrig nach irdi&#x017F;chen Gu&#x0364;tern bin, mir &#x017F;cha&#x0364;tzbarer &#x017F;eyn muß,<lb/>
als die ho&#x0364;ch&#x017F;te Geburt, oder als die reich&#x017F;te Goldminen. Jeru&#x017F;a-<lb/>
lem, Mecca, Rom, Ho&#x0364;hen, Haine und Tha&#x0364;ler &#x2014; ich bin an<lb/>
keinen Ort gebunden. Je&#x017F;us hat mir durch &#x017F;einen Tod den Ein-<lb/>
tritt ins Allerheilig&#x017F;te ero&#x0364;fnet: ich kan allenthalben mein Herz zum<lb/>
Opfer bringen. Der allgegenwa&#x0364;rtige Sohn Gottes bietet mir an<lb/>
jedem Ort reichen Ablaß meiner Su&#x0364;nden an. Er hat erworben:<lb/>
ich darf nur genehm halten, &#x017F;o i&#x017F;t der Himmel mein.</p><lb/>
            <fw place="bottom" type="catch">Wie</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[301[331]/0338] Der 25te Mai. Singt dem goͤttlichen Propheten, Der den Troſt vom Himmel bringet, Daß der Geiſt ſich aufwaͤrts ſchwinget: Erd_nſoͤhne! ſingt ihm Dank! Ja, mein Erloͤſer! ich verliere mich in meine eigene Groͤſſe, wenn ich nachdenke, zu welcher Hoͤhe du mich erhoben haſt. Ein Menſch zu ſeyn, erfodert den innigſten Dank: aber Dank fuͤr die Erloͤſung durch Jeſum: das erhebt den Menſchen uͤber ſich ſelbſt. Jch konte auch von juͤdiſchen oder heidniſchen Eltern geboren ſeyn: Gott! ich zittre fuͤr Freuden, daß du mir die Beſtimmung eines Chriſten gabſt. Als du in deinem Ver- ſtande von Ewigkeit her die Seelen aller Menſchen ſahſt, und ih- nen ihr Schickſal abwogſt: da ging auch ich vor deinem Ange- ſichte voruͤber. Unter der groſſen Menge riefſt du mich hervor und ſprachſt: ſey einſt ein Chriſt! Rauhe Sitten, Aberglauben, und wenn ich ſehr ſcharfſin- nig waͤre, bange Ungewißheit; das alles wuͤrde mein Erbtheil ſeyn, wenn ich in einer andern Religion geboren waͤre. Meine Erziehung, Einſichten, Denkungsart und aͤuſſern Wohlſtand, habe ich dem Chriſtenthum zu verdanken; einer Erſtgeburt, wel- che, wofern ich nicht ſehr abgetrieben von der Suͤndenjagd, und ſehr hungrig nach irdiſchen Guͤtern bin, mir ſchaͤtzbarer ſeyn muß, als die hoͤchſte Geburt, oder als die reichſte Goldminen. Jeruſa- lem, Mecca, Rom, Hoͤhen, Haine und Thaͤler — ich bin an keinen Ort gebunden. Jeſus hat mir durch ſeinen Tod den Ein- tritt ins Allerheiligſte eroͤfnet: ich kan allenthalben mein Herz zum Opfer bringen. Der allgegenwaͤrtige Sohn Gottes bietet mir an jedem Ort reichen Ablaß meiner Suͤnden an. Er hat erworben: ich darf nur genehm halten, ſo iſt der Himmel mein. Wie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription. (2023-05-24T12:24:22Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels

Weitere Informationen:

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/338
Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 301[331]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/338>, abgerufen am 24.11.2024.