Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 31te Mai. lebe nicht, sondern träume nur, wenn ich nicht so denke undhandle, als ich es in der Ewigkeit fortsetzen kan. Der Himmel wird niemanden ertheilet, der nicht ein strenges Eramen überstan- den hat; und das wird gewiß ganz anders angestellet werden, als es hier von blödsichtigen Aufsehern oder von unserm partheilschen Gewissen zu geschehen pflegt. Ein minutenlanges Gebet eines Bettlers macht dort älter, als zehnjährige Staatsintrigen eines Ministers. Eine bewundernde Betrachtung der Werke Gottes gilt dort mehr, als alle noch so studirte Kunst, die Augen und Ohren leerer Köpfe auf sich zu ziehen. Ewiger Gott! ich bin noch unmündig, noch ein lallendes Der
Der 31te Mai. lebe nicht, ſondern traͤume nur, wenn ich nicht ſo denke undhandle, als ich es in der Ewigkeit fortſetzen kan. Der Himmel wird niemanden ertheilet, der nicht ein ſtrenges Eramen uͤberſtan- den hat; und das wird gewiß ganz anders angeſtellet werden, als es hier von bloͤdſichtigen Aufſehern oder von unſerm partheilſchen Gewiſſen zu geſchehen pflegt. Ein minutenlanges Gebet eines Bettlers macht dort aͤlter, als zehnjaͤhrige Staatsintrigen eines Miniſters. Eine bewundernde Betrachtung der Werke Gottes gilt dort mehr, als alle noch ſo ſtudirte Kunſt, die Augen und Ohren leerer Koͤpfe auf ſich zu ziehen. Ewiger Gott! ich bin noch unmuͤndig, noch ein lallendes Der
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Der 31te Mai.
lebe nicht, ſondern traͤume nur, wenn ich nicht ſo denke und
handle, als ich es in der Ewigkeit fortſetzen kan. Der Himmel
wird niemanden ertheilet, der nicht ein ſtrenges Eramen uͤberſtan-
den hat; und das wird gewiß ganz anders angeſtellet werden, als
es hier von bloͤdſichtigen Aufſehern oder von unſerm partheilſchen
Gewiſſen zu geſchehen pflegt. Ein minutenlanges Gebet eines
Bettlers macht dort aͤlter, als zehnjaͤhrige Staatsintrigen eines
Miniſters. Eine bewundernde Betrachtung der Werke Gottes
gilt dort mehr, als alle noch ſo ſtudirte Kunſt, die Augen und
Ohren leerer Koͤpfe auf ſich zu ziehen.
Ewiger Gott! ich bin noch unmuͤndig, noch ein lallendes
Kind. Auch dieſer Monat hat mich nur wenig Stunden aͤlter
gemacht. Und iſt es nicht meine Schuld, daß ich ſo jung bin?
Dich naͤher kennen, dich mehr verehren: das allein heißt wachſen
an Alter, Weisheit und Gnade bei dir. Fuͤr Tiſch und Bette,
fuͤr Frohndienſte weltlicher Herren, fuͤr ſchmaͤhſuͤchtige und doch
liebaͤugelnde Geſellſchaften, oder fuͤr Alltagszeitungen der Welt
bin ich warlich nicht erſchaffen: ſondern dein Verehrer, mein
Gott! ſoll ich ſeyn in Ewigkeit. Ach! daß ich doch im kuͤnfti-
gen Monate wenigſtens um eine Woche aͤlter wuͤrde!
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Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
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