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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 9te Junius.

Die Art zu speisen ist eben so wunderbar. Das Aufsuchen
der Nahrung setzet die Thiere in gesunde Bewegung, und ist ein
Zeitvertreib für ihre sinnliche Seele. Einige müssen viele Kunst
dabei anwenden. Vögel, die nicht schwimmen können, müssen
von Fischen leben; dahin Meerraben, Meerschwalben, Fischadler,
Königsfischer und Fischhabichte. Ja, diese letztern müssen auch
noch für ihren Feind, den weißköpfigen Adler, Fische aus dem
Wasser mit herauslangen. Denn wenn jene von den Hügeln
am Strande, Heere streichender Fische sehen, dann über ihnen
schweben, und schnell eine Beute herausholen: so schiesset dieser
auf sie zu, und schwebet so lange über ihnen, bis sie für Angst
den Fisch fallen lassen, welchen er alsdann erhascht, ehe er das
Wasser erreicht. Noch ein Exempel: Ein Thier ohne Flügel,
Füsse und Hände, ohne Zähne und Werkzeuge: das Thier soll
Vögel fangen, und mit einem dreimal engern Halse, als die Beute
dick ist, soll es sie dennoch verschlingen und verdauen. Weltweise!
haltet ihr das für möglich? Und doch ist das Thier vorhanden.
Es giebt eine Art Schlangen, welche wie tod auf der Erde liegen,
oder von Bäumen herab hängen, bis sie einen Vogel oder Fisch
mit einem Sprunge erschnappen, und so lange daran saugen, bis
sie ihren Raub durch die Kehle bringen können.

Was folget aus dem allen? Entweder hat der Schöpfer
nur spielen wollen, oder vernünftige Geschöpfe solten nachdenken,
und die Grösse und Allgenugsamkeit ihres Gottes erlernen. Aber
der Sünder siehet nur auf seinen eignen Tisch, um murren, und
den Allerhöchsten klein finden zu können! Jesus verwies die Klein-
gläubigen auf die wunderbare Ernährung der Vögel, ob sie gleich
nicht in die Scheuren samlen. Und ich wolte nicht aufmerken,
nicht volles Vertrauen auf Gott setzen? Wenn ich zu verhungern
befürchte, so schreiet die ganze Natur wider mich. Für meinen
Tisch und für meine Seele wird ja auch gütigst gesorget seyn!

Der
Der 9te Junius.

Die Art zu ſpeiſen iſt eben ſo wunderbar. Das Aufſuchen
der Nahrung ſetzet die Thiere in geſunde Bewegung, und iſt ein
Zeitvertreib fuͤr ihre ſinnliche Seele. Einige muͤſſen viele Kunſt
dabei anwenden. Voͤgel, die nicht ſchwimmen koͤnnen, muͤſſen
von Fiſchen leben; dahin Meerraben, Meerſchwalben, Fiſchadler,
Koͤnigsfiſcher und Fiſchhabichte. Ja, dieſe letztern muͤſſen auch
noch fuͤr ihren Feind, den weißkoͤpfigen Adler, Fiſche aus dem
Waſſer mit herauslangen. Denn wenn jene von den Huͤgeln
am Strande, Heere ſtreichender Fiſche ſehen, dann uͤber ihnen
ſchweben, und ſchnell eine Beute herausholen: ſo ſchieſſet dieſer
auf ſie zu, und ſchwebet ſo lange uͤber ihnen, bis ſie fuͤr Angſt
den Fiſch fallen laſſen, welchen er alsdann erhaſcht, ehe er das
Waſſer erreicht. Noch ein Exempel: Ein Thier ohne Fluͤgel,
Fuͤſſe und Haͤnde, ohne Zaͤhne und Werkzeuge: das Thier ſoll
Voͤgel fangen, und mit einem dreimal engern Halſe, als die Beute
dick iſt, ſoll es ſie dennoch verſchlingen und verdauen. Weltweiſe!
haltet ihr das fuͤr moͤglich? Und doch iſt das Thier vorhanden.
Es giebt eine Art Schlangen, welche wie tod auf der Erde liegen,
oder von Baͤumen herab haͤngen, bis ſie einen Vogel oder Fiſch
mit einem Sprunge erſchnappen, und ſo lange daran ſaugen, bis
ſie ihren Raub durch die Kehle bringen koͤnnen.

Was folget aus dem allen? Entweder hat der Schoͤpfer
nur ſpielen wollen, oder vernuͤnftige Geſchoͤpfe ſolten nachdenken,
und die Groͤſſe und Allgenugſamkeit ihres Gottes erlernen. Aber
der Suͤnder ſiehet nur auf ſeinen eignen Tiſch, um murren, und
den Allerhoͤchſten klein finden zu koͤnnen! Jeſus verwies die Klein-
glaͤubigen auf die wunderbare Ernaͤhrung der Voͤgel, ob ſie gleich
nicht in die Scheuren ſamlen. Und ich wolte nicht aufmerken,
nicht volles Vertrauen auf Gott ſetzen? Wenn ich zu verhungern
befuͤrchte, ſo ſchreiet die ganze Natur wider mich. Fuͤr meinen
Tiſch und fuͤr meine Seele wird ja auch guͤtigſt geſorget ſeyn!

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[334[364]/0371] Der 9te Junius. Die Art zu ſpeiſen iſt eben ſo wunderbar. Das Aufſuchen der Nahrung ſetzet die Thiere in geſunde Bewegung, und iſt ein Zeitvertreib fuͤr ihre ſinnliche Seele. Einige muͤſſen viele Kunſt dabei anwenden. Voͤgel, die nicht ſchwimmen koͤnnen, muͤſſen von Fiſchen leben; dahin Meerraben, Meerſchwalben, Fiſchadler, Koͤnigsfiſcher und Fiſchhabichte. Ja, dieſe letztern muͤſſen auch noch fuͤr ihren Feind, den weißkoͤpfigen Adler, Fiſche aus dem Waſſer mit herauslangen. Denn wenn jene von den Huͤgeln am Strande, Heere ſtreichender Fiſche ſehen, dann uͤber ihnen ſchweben, und ſchnell eine Beute herausholen: ſo ſchieſſet dieſer auf ſie zu, und ſchwebet ſo lange uͤber ihnen, bis ſie fuͤr Angſt den Fiſch fallen laſſen, welchen er alsdann erhaſcht, ehe er das Waſſer erreicht. Noch ein Exempel: Ein Thier ohne Fluͤgel, Fuͤſſe und Haͤnde, ohne Zaͤhne und Werkzeuge: das Thier ſoll Voͤgel fangen, und mit einem dreimal engern Halſe, als die Beute dick iſt, ſoll es ſie dennoch verſchlingen und verdauen. Weltweiſe! haltet ihr das fuͤr moͤglich? Und doch iſt das Thier vorhanden. Es giebt eine Art Schlangen, welche wie tod auf der Erde liegen, oder von Baͤumen herab haͤngen, bis ſie einen Vogel oder Fiſch mit einem Sprunge erſchnappen, und ſo lange daran ſaugen, bis ſie ihren Raub durch die Kehle bringen koͤnnen. Was folget aus dem allen? Entweder hat der Schoͤpfer nur ſpielen wollen, oder vernuͤnftige Geſchoͤpfe ſolten nachdenken, und die Groͤſſe und Allgenugſamkeit ihres Gottes erlernen. Aber der Suͤnder ſiehet nur auf ſeinen eignen Tiſch, um murren, und den Allerhoͤchſten klein finden zu koͤnnen! Jeſus verwies die Klein- glaͤubigen auf die wunderbare Ernaͤhrung der Voͤgel, ob ſie gleich nicht in die Scheuren ſamlen. Und ich wolte nicht aufmerken, nicht volles Vertrauen auf Gott ſetzen? Wenn ich zu verhungern befuͤrchte, ſo ſchreiet die ganze Natur wider mich. Fuͤr meinen Tiſch und fuͤr meine Seele wird ja auch guͤtigſt geſorget ſeyn! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 334[364]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/371>, abgerufen am 21.11.2024.