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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 12te Junius.
andre Menschen zu dienen glaubt: das nennest du eine abscheuli-
che Schutzrede? Verführtes Herz! die deinigen sind eben so ab-
scheulich. Ein Mörder, der in der Hitze des Affekts (denn bei
kaltem Blut morden nur Teufel) seinen Beleidiger ersticht, und
in dessen Stelle du dich nur mit Schaudern versetzen kanst; der
Einfältige, welcher die christliche Religion abschwört, weil er sie
nicht kennet und es ihm bezahlt wird: gewiß, sie sind eben so
leicht, wo nicht noch leichter zu entschuldigen, als wenn du dich
ohne Gebet und Andacht zu Bette legest. Es ist schon alles seit
Adam und Eva so abgenutzt, was zur Beschönigung einer Sün-
de gesagt werden kan; und Gottes erhabne Eigenschaften und
sein Wort widerlegen und benehmen alle Ausflüchte dermassen,
daß einem vernünftigen Sünder nichts übrig bleibt, als sich an-
zuklagen, und Jesum zu seinem Sachwalter anzunehmen. Jst es
jrgend möglich, daß Sünden vor dem allerheiligsten Gott, der
sich aber nicht spotten läßt, entschuldiget werden können: wahr-
haftig so entschuldigt sie Jesus. Wo er aber schweiget, da spricht
die Hölle.

Langmüthiger Gott! ich will mich nicht ins Gebüsch verste-
cken, sondern ich höre jetzt, da der Tag kühle worden ist, deine
wandelnde Stimme: Adam wo bist du? Was hilfts, daß ich
sagen kan: ich bin verführet worden: habe ich andre nicht auch
verführt? Und war es nicht Abgötterei, so bald ich ein höheres
Gesetz befolgte, als das deinige? Wer Fehler vertheidigt, hat Lust,
sie öfter zu begehen. Wer sich aufrichtig anklagt, wird waht-
scheinlich sich bessern. Weg mit allen Ränken und Feigenblättern!
Du, Allerheiligster! bist gerecht: ich aber bin ein Sünder; und
um desto mehr, je weniger ich es zu seyn vorgebe. Ach welch ein
Unsinn: vor Menschen schäme ich mich meiner Fehltritte, und vor
dir, der du für Liebe brennest, bereuete Verbrechen zu vergeben:
mit dir will ich einen Rechtshandel anheben, und meine Sache
wider deine Gebote durchsetzen? Gott sey mir armen Sünder
gnädig!

Der

Der 12te Junius.
andre Menſchen zu dienen glaubt: das nenneſt du eine abſcheuli-
che Schutzrede? Verfuͤhrtes Herz! die deinigen ſind eben ſo ab-
ſcheulich. Ein Moͤrder, der in der Hitze des Affekts (denn bei
kaltem Blut morden nur Teufel) ſeinen Beleidiger erſticht, und
in deſſen Stelle du dich nur mit Schaudern verſetzen kanſt; der
Einfaͤltige, welcher die chriſtliche Religion abſchwoͤrt, weil er ſie
nicht kennet und es ihm bezahlt wird: gewiß, ſie ſind eben ſo
leicht, wo nicht noch leichter zu entſchuldigen, als wenn du dich
ohne Gebet und Andacht zu Bette legeſt. Es iſt ſchon alles ſeit
Adam und Eva ſo abgenutzt, was zur Beſchoͤnigung einer Suͤn-
de geſagt werden kan; und Gottes erhabne Eigenſchaften und
ſein Wort widerlegen und benehmen alle Ausfluͤchte dermaſſen,
daß einem vernuͤnftigen Suͤnder nichts uͤbrig bleibt, als ſich an-
zuklagen, und Jeſum zu ſeinem Sachwalter anzunehmen. Jſt es
jrgend moͤglich, daß Suͤnden vor dem allerheiligſten Gott, der
ſich aber nicht ſpotten laͤßt, entſchuldiget werden koͤnnen: wahr-
haftig ſo entſchuldigt ſie Jeſus. Wo er aber ſchweiget, da ſpricht
die Hoͤlle.

Langmuͤthiger Gott! ich will mich nicht ins Gebuͤſch verſte-
cken, ſondern ich hoͤre jetzt, da der Tag kuͤhle worden iſt, deine
wandelnde Stimme: Adam wo biſt du? Was hilfts, daß ich
ſagen kan: ich bin verfuͤhret worden: habe ich andre nicht auch
verfuͤhrt? Und war es nicht Abgoͤtterei, ſo bald ich ein hoͤheres
Geſetz befolgte, als das deinige? Wer Fehler vertheidigt, hat Luſt,
ſie oͤfter zu begehen. Wer ſich aufrichtig anklagt, wird waht-
ſcheinlich ſich beſſern. Weg mit allen Raͤnken und Feigenblaͤttern!
Du, Allerheiligſter! biſt gerecht: ich aber bin ein Suͤnder; und
um deſto mehr, je weniger ich es zu ſeyn vorgebe. Ach welch ein
Unſinn: vor Menſchen ſchaͤme ich mich meiner Fehltritte, und vor
dir, der du fuͤr Liebe brenneſt, bereuete Verbrechen zu vergeben:
mit dir will ich einen Rechtshandel anheben, und meine Sache
wider deine Gebote durchſetzen? Gott ſey mir armen Suͤnder
gnaͤdig!

Der
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[340[370]/0377] Der 12te Junius. andre Menſchen zu dienen glaubt: das nenneſt du eine abſcheuli- che Schutzrede? Verfuͤhrtes Herz! die deinigen ſind eben ſo ab- ſcheulich. Ein Moͤrder, der in der Hitze des Affekts (denn bei kaltem Blut morden nur Teufel) ſeinen Beleidiger erſticht, und in deſſen Stelle du dich nur mit Schaudern verſetzen kanſt; der Einfaͤltige, welcher die chriſtliche Religion abſchwoͤrt, weil er ſie nicht kennet und es ihm bezahlt wird: gewiß, ſie ſind eben ſo leicht, wo nicht noch leichter zu entſchuldigen, als wenn du dich ohne Gebet und Andacht zu Bette legeſt. Es iſt ſchon alles ſeit Adam und Eva ſo abgenutzt, was zur Beſchoͤnigung einer Suͤn- de geſagt werden kan; und Gottes erhabne Eigenſchaften und ſein Wort widerlegen und benehmen alle Ausfluͤchte dermaſſen, daß einem vernuͤnftigen Suͤnder nichts uͤbrig bleibt, als ſich an- zuklagen, und Jeſum zu ſeinem Sachwalter anzunehmen. Jſt es jrgend moͤglich, daß Suͤnden vor dem allerheiligſten Gott, der ſich aber nicht ſpotten laͤßt, entſchuldiget werden koͤnnen: wahr- haftig ſo entſchuldigt ſie Jeſus. Wo er aber ſchweiget, da ſpricht die Hoͤlle. Langmuͤthiger Gott! ich will mich nicht ins Gebuͤſch verſte- cken, ſondern ich hoͤre jetzt, da der Tag kuͤhle worden iſt, deine wandelnde Stimme: Adam wo biſt du? Was hilfts, daß ich ſagen kan: ich bin verfuͤhret worden: habe ich andre nicht auch verfuͤhrt? Und war es nicht Abgoͤtterei, ſo bald ich ein hoͤheres Geſetz befolgte, als das deinige? Wer Fehler vertheidigt, hat Luſt, ſie oͤfter zu begehen. Wer ſich aufrichtig anklagt, wird waht- ſcheinlich ſich beſſern. Weg mit allen Raͤnken und Feigenblaͤttern! Du, Allerheiligſter! biſt gerecht: ich aber bin ein Suͤnder; und um deſto mehr, je weniger ich es zu ſeyn vorgebe. Ach welch ein Unſinn: vor Menſchen ſchaͤme ich mich meiner Fehltritte, und vor dir, der du fuͤr Liebe brenneſt, bereuete Verbrechen zu vergeben: mit dir will ich einen Rechtshandel anheben, und meine Sache wider deine Gebote durchſetzen? Gott ſey mir armen Suͤnder gnaͤdig! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 340[370]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/377>, abgerufen am 21.11.2024.