Da liegen sie, vom Schlaf gebunden; Von Sünden müde, doch nicht satt. Gottlob! daß nun auf ein'ge Stunden Ihr Wüten sich geleget hat.
Unter den vielen unerkannten Wohlthaten des Schlafs verdie- net auch diejenige eine Betrachtung, daß er die Sünder zur Ruhe bringt und sie auf ihrer bösen Laufbahn stille stehen heißt. Wie sehr würde nicht die Tugend darunter leiden, und zu welcher ungeheuren Grösse nicht das Laster anwachsen, wenn die Gottlo- sen auch die Nächte hindurch freie Hände behielten! So aber müssen sie fast den dritten Theil ihres Lebens verschlafen, und der gemißhandelten Tugend eine Erholungsfrist verstatten. Des Seufzens der geängstigten Kreatur wird dadurch weniger: die Treiber ermüden und stehen vom Nachjagen ab. Die Nacht ist ein Riegel vor vielen Sünden.
Ich darf nur annehmen, daß die Menschen noch einmal so lange wachen könten, als sie es nach der gegenwärtigen Einrich- tung ihrer Natur vermögen: so würden noch einmal so viele Sünden begangen werden; und die Lasterhaften, deren doch im- mer die größte und lebhafteste Anzahl ist, würden wie Unkraut den Weizen ersticken. Nicht zu gedenken, daß eine so lange ununterbrochne Fortsetzung der Sünden ihre Fertigkeiten dazu vermehren würde. So aber windet ihnen der gütige Schlaf ein angefangnes Gespinst oder Verbrechen aus der Hand; unwillig lassen sie es fahren, und sind morgen vielleicht nicht fähig oder aufgelegt, es zu vollenden. Wie viele Gotteslästerungen wür- den die giftige Juden nicht noch unter dem Kreuze meines Erlö- sers ausgestossen haben, wenn nicht der hereinbrechende Abend
sie
Der 7te Januar.
Da liegen ſie, vom Schlaf gebunden; Von Suͤnden muͤde, doch nicht ſatt. Gottlob! daß nun auf ein’ge Stunden Ihr Wuͤten ſich geleget hat.
Unter den vielen unerkannten Wohlthaten des Schlafs verdie- net auch diejenige eine Betrachtung, daß er die Suͤnder zur Ruhe bringt und ſie auf ihrer boͤſen Laufbahn ſtille ſtehen heißt. Wie ſehr wuͤrde nicht die Tugend darunter leiden, und zu welcher ungeheuren Groͤſſe nicht das Laſter anwachſen, wenn die Gottlo- ſen auch die Naͤchte hindurch freie Haͤnde behielten! So aber muͤſſen ſie faſt den dritten Theil ihres Lebens verſchlafen, und der gemißhandelten Tugend eine Erholungsfriſt verſtatten. Des Seufzens der geaͤngſtigten Kreatur wird dadurch weniger: die Treiber ermuͤden und ſtehen vom Nachjagen ab. Die Nacht iſt ein Riegel vor vielen Suͤnden.
Ich darf nur annehmen, daß die Menſchen noch einmal ſo lange wachen koͤnten, als ſie es nach der gegenwaͤrtigen Einrich- tung ihrer Natur vermoͤgen: ſo wuͤrden noch einmal ſo viele Suͤnden begangen werden; und die Laſterhaften, deren doch im- mer die groͤßte und lebhafteſte Anzahl iſt, wuͤrden wie Unkraut den Weizen erſticken. Nicht zu gedenken, daß eine ſo lange ununterbrochne Fortſetzung der Suͤnden ihre Fertigkeiten dazu vermehren wuͤrde. So aber windet ihnen der guͤtige Schlaf ein angefangnes Geſpinſt oder Verbrechen aus der Hand; unwillig laſſen ſie es fahren, und ſind morgen vielleicht nicht faͤhig oder aufgelegt, es zu vollenden. Wie viele Gotteslaͤſterungen wuͤr- den die giftige Juden nicht noch unter dem Kreuze meines Erloͤ- ſers ausgeſtoſſen haben, wenn nicht der hereinbrechende Abend
ſie
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[15[45]/0052]
Der 7te Januar.
Da liegen ſie, vom Schlaf gebunden;
Von Suͤnden muͤde, doch nicht ſatt.
Gottlob! daß nun auf ein’ge Stunden
Ihr Wuͤten ſich geleget hat.
Unter den vielen unerkannten Wohlthaten des Schlafs verdie-
net auch diejenige eine Betrachtung, daß er die Suͤnder zur
Ruhe bringt und ſie auf ihrer boͤſen Laufbahn ſtille ſtehen heißt.
Wie ſehr wuͤrde nicht die Tugend darunter leiden, und zu welcher
ungeheuren Groͤſſe nicht das Laſter anwachſen, wenn die Gottlo-
ſen auch die Naͤchte hindurch freie Haͤnde behielten! So aber
muͤſſen ſie faſt den dritten Theil ihres Lebens verſchlafen, und der
gemißhandelten Tugend eine Erholungsfriſt verſtatten. Des
Seufzens der geaͤngſtigten Kreatur wird dadurch weniger: die
Treiber ermuͤden und ſtehen vom Nachjagen ab. Die Nacht
iſt ein Riegel vor vielen Suͤnden.
Ich darf nur annehmen, daß die Menſchen noch einmal ſo
lange wachen koͤnten, als ſie es nach der gegenwaͤrtigen Einrich-
tung ihrer Natur vermoͤgen: ſo wuͤrden noch einmal ſo viele
Suͤnden begangen werden; und die Laſterhaften, deren doch im-
mer die groͤßte und lebhafteſte Anzahl iſt, wuͤrden wie Unkraut
den Weizen erſticken. Nicht zu gedenken, daß eine ſo lange
ununterbrochne Fortſetzung der Suͤnden ihre Fertigkeiten dazu
vermehren wuͤrde. So aber windet ihnen der guͤtige Schlaf ein
angefangnes Geſpinſt oder Verbrechen aus der Hand; unwillig
laſſen ſie es fahren, und ſind morgen vielleicht nicht faͤhig oder
aufgelegt, es zu vollenden. Wie viele Gotteslaͤſterungen wuͤr-
den die giftige Juden nicht noch unter dem Kreuze meines Erloͤ-
ſers ausgeſtoſſen haben, wenn nicht der hereinbrechende Abend
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 15[45]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/52>, abgerufen am 23.11.2024.
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