Feinde! die ihr im Grabe ruht, Bei euch will ich jetzt noch wachen! Ihr dachtet es böse zu machen: Und dennoch machte Gott es gut.
Verstorbene Feinde! -- Jedoch euer Tod hat uns schon ausgesöhnet! Freunde also, die ihr in eurem Leben eure Brust nicht an die meinige drücken mogtet, sondern durch Tem- perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet! Jedoch, was beschuldige ich euch, da die meiste Schuld unsers Zwistes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Geister! will ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung verstanden, als wir uns ehedem entzweiten!
Pilger müssen sich nicht anfeinden. Die Wanderschaft dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit ist zu viel, und die Zän- kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke unter einander anstossen und an dem Gang zum Vaterlande hin- dern solten. Ihr, meine nun schon verwesende Widersacher! habt es, aller Wahrscheinlichkeit nach, während eures Todeskampfs, mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde gewesen waren: und ich bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die wir über unsern Zorn nntergehen lassen, wird dereinst, wenn uns die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un- sern Gebeinen. Nichts ist schrecklicher, als Beleidigungen mit sich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns?
Alle Zänkereien der Sterblichen sind Kleinigkeiten. So heiß- hungrig wir auch über unsere Vortheile wachen, und das Mein und Dein für den Hauptzweck unsers Daseyns halten: so haben wir zur Ewigkeit bestimte Menschen doch unendlich wichtigere Ge- schäfte. Hundert Prozesse gewonnen oder verloren, sind nicht so viel werth, als der Becher kaltes Wasser, den wir einem Armen
und
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Der 17te Januar.
Feinde! die ihr im Grabe ruht, Bei euch will ich jetzt noch wachen! Ihr dachtet es boͤſe zu machen: Und dennoch machte Gott es gut.
Verſtorbene Feinde! — Jedoch euer Tod hat uns ſchon ausgeſoͤhnet! Freunde alſo, die ihr in eurem Leben eure Bruſt nicht an die meinige druͤcken mogtet, ſondern durch Tem- perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet! Jedoch, was beſchuldige ich euch, da die meiſte Schuld unſers Zwiſtes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Geiſter! will ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung verſtanden, als wir uns ehedem entzweiten!
Pilger muͤſſen ſich nicht anfeinden. Die Wanderſchaft dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit iſt zu viel, und die Zaͤn- kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke unter einander anſtoſſen und an dem Gang zum Vaterlande hin- dern ſolten. Ihr, meine nun ſchon verweſende Widerſacher! habt es, aller Wahrſcheinlichkeit nach, waͤhrend eures Todeskampfs, mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde geweſen waren: und ich bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die wir uͤber unſern Zorn nntergehen laſſen, wird dereinſt, wenn uns die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un- ſern Gebeinen. Nichts iſt ſchrecklicher, als Beleidigungen mit ſich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns?
Alle Zaͤnkereien der Sterblichen ſind Kleinigkeiten. So heiß- hungrig wir auch uͤber unſere Vortheile wachen, und das Mein und Dein fuͤr den Hauptzweck unſers Daſeyns halten: ſo haben wir zur Ewigkeit beſtimte Menſchen doch unendlich wichtigere Ge- ſchaͤfte. Hundert Prozeſſe gewonnen oder verloren, ſind nicht ſo viel werth, als der Becher kaltes Waſſer, den wir einem Armen
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[35[65]/0072]
Der 17te Januar.
Feinde! die ihr im Grabe ruht,
Bei euch will ich jetzt noch wachen!
Ihr dachtet es boͤſe zu machen:
Und dennoch machte Gott es gut.
Verſtorbene Feinde! — Jedoch euer Tod hat uns ſchon
ausgeſoͤhnet! Freunde alſo, die ihr in eurem Leben eure
Bruſt nicht an die meinige druͤcken mogtet, ſondern durch Tem-
perament, Eigennutz und Vorurtheile von mir entfernet wurdet!
Jedoch, was beſchuldige ich euch, da die meiſte Schuld unſers
Zwiſtes vieleicht an mir lag! Mit euch, vollendete Geiſter! will
ich mich jetzt unterhalten, und an euer Grab gelehnt will ich
Wahrheiten lernen, die wir leider von beiden Seiten nicht genung
verſtanden, als wir uns ehedem entzweiten!
Pilger muͤſſen ſich nicht anfeinden. Die Wanderſchaft
dauert zu kurz, der nothwendigern Arbeit iſt zu viel, und die Zaͤn-
kereien richten zu wenig aus, als daß wir uns alle Augenblicke
unter einander anſtoſſen und an dem Gang zum Vaterlande hin-
dern ſolten. Ihr, meine nun ſchon verweſende Widerſacher! habt
es, aller Wahrſcheinlichkeit nach, waͤhrend eures Todeskampfs,
mehr als einmal bereuet, daß wir Feinde geweſen waren: und ich
bereue es jetzt gleichfals von Herzen. Eine einzige Sonne, die
wir uͤber unſern Zorn nntergehen laſſen, wird dereinſt, wenn uns
die Gottesfurcht oder der Tod friedlicher macht, ein Mord in un-
ſern Gebeinen. Nichts iſt ſchrecklicher, als Beleidigungen mit
ſich in die Grube zu nehmen. Aber warum zankten wir uns?
Alle Zaͤnkereien der Sterblichen ſind Kleinigkeiten. So heiß-
hungrig wir auch uͤber unſere Vortheile wachen, und das Mein
und Dein fuͤr den Hauptzweck unſers Daſeyns halten: ſo haben
wir zur Ewigkeit beſtimte Menſchen doch unendlich wichtigere Ge-
ſchaͤfte. Hundert Prozeſſe gewonnen oder verloren, ſind nicht ſo
viel werth, als der Becher kaltes Waſſer, den wir einem Armen
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 35[65]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/72>, abgerufen am 23.11.2024.
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