Es zieht im Glanz der Wintersonne Der Dampf des Schornsteins himmelauf: So ziehn, bei Licht und Fackelscheine, Die Sünden des Winters zum Richter hin auf.
Unsre Denkungsart richtet sich meistentheils nach der Lage, in der wir uns jedesmal befinden, und so haben auch die Jahreszei- ten einen nicht geringen Einfluß auf unser Herz. Eine Sache, die uns im Sommer lästig wäre, kan uns jetzt ein Zeitvertreib seyn. So wie der Jüngling andre Reizungen zur Sünde und zur Tu- gend hat, als der Greis, so unterscheidet sich auch der Winter von andern Jahrszeiten durch besondre Einladungen, welche er an unser Herz ergehen läßt. Ich muß demnach auf meiner Hut seyn, um nicht durch Wintersünden überrascht zu werden, die sich diese Monate hindurch von der reizendsten Seite zeigen, und sich mir wol gar als eine nothwendige Begleitung des Winters aufdrän- gen möchten.
Das Stadt- und Landleben kommt jetzt darin überein, daß man eine ungesunde Diät hält. Man bewegt sich nicht genug, genießt der freien Luft zu wenig, und unverdaulicher Speisen zu viel; im Frühlinge brechen die Folgen davon aus, und man schreier über göttliche Strafen. Ist es aber wol eine Kleinigkeit, wenn wir uns selber langsam tödten, und zu weichlich sind, unsre Ge- sundheit zu befördern? Weniger Betrachtungen über die Werke Gottes sind eine der traurigsten Folgen des Winters. Keine Vlu- me breitet jetzt ihren Schmuck vor uns aus; kein Konzert des Waldes ladet uns ein; die Spaziergänge sind öde und unweg- sam; und Flur und Gärten haben ein rauhes Ansehen. Jedoch, welche nichtige Entschuldigungen sind das! Gleich als wenn die Werke des Schöpfers sämtlich erstorben wären! Hat nicht die Aussicht des Winters ihre Schönheiten auch? Der jetzt fun- kelnde gestirnte Himmel; die mit Schnee warm bedeckte Felder; Vögel welche der Hunger dreiste macht, daß sie sich unserer Woh-
nung
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Der 20te Januar.
Es zieht im Glanz der Winterſonne Der Dampf des Schornſteins himmelauf: So ziehn, bei Licht und Fackelſcheine, Die Suͤnden des Winters zum Richter hin auf.
Unſre Denkungsart richtet ſich meiſtentheils nach der Lage, in der wir uns jedesmal befinden, und ſo haben auch die Jahreszei- ten einen nicht geringen Einfluß auf unſer Herz. Eine Sache, die uns im Sommer laͤſtig waͤre, kan uns jetzt ein Zeitvertreib ſeyn. So wie der Juͤngling andre Reizungen zur Suͤnde und zur Tu- gend hat, als der Greis, ſo unterſcheidet ſich auch der Winter von andern Jahrszeiten durch beſondre Einladungen, welche er an unſer Herz ergehen laͤßt. Ich muß demnach auf meiner Hut ſeyn, um nicht durch Winterſuͤnden uͤberraſcht zu werden, die ſich dieſe Monate hindurch von der reizendſten Seite zeigen, und ſich mir wol gar als eine nothwendige Begleitung des Winters aufdraͤn- gen moͤchten.
Das Stadt- und Landleben kommt jetzt darin uͤberein, daß man eine ungeſunde Diaͤt haͤlt. Man bewegt ſich nicht genug, genießt der freien Luft zu wenig, und unverdaulicher Speiſen zu viel; im Fruͤhlinge brechen die Folgen davon aus, und man ſchreier uͤber goͤttliche Strafen. Iſt es aber wol eine Kleinigkeit, wenn wir uns ſelber langſam toͤdten, und zu weichlich ſind, unſre Ge- ſundheit zu befoͤrdern? Weniger Betrachtungen uͤber die Werke Gottes ſind eine der traurigſten Folgen des Winters. Keine Vlu- me breitet jetzt ihren Schmuck vor uns aus; kein Konzert des Waldes ladet uns ein; die Spaziergaͤnge ſind oͤde und unweg- ſam; und Flur und Gaͤrten haben ein rauhes Anſehen. Jedoch, welche nichtige Entſchuldigungen ſind das! Gleich als wenn die Werke des Schoͤpfers ſaͤmtlich erſtorben waͤren! Hat nicht die Ausſicht des Winters ihre Schoͤnheiten auch? Der jetzt fun- kelnde geſtirnte Himmel; die mit Schnee warm bedeckte Felder; Voͤgel welche der Hunger dreiſte macht, daß ſie ſich unſerer Woh-
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Der 20te Januar.
Es zieht im Glanz der Winterſonne
Der Dampf des Schornſteins himmelauf:
So ziehn, bei Licht und Fackelſcheine,
Die Suͤnden des Winters zum Richter hin auf.
Unſre Denkungsart richtet ſich meiſtentheils nach der Lage, in der
wir uns jedesmal befinden, und ſo haben auch die Jahreszei-
ten einen nicht geringen Einfluß auf unſer Herz. Eine Sache, die
uns im Sommer laͤſtig waͤre, kan uns jetzt ein Zeitvertreib ſeyn.
So wie der Juͤngling andre Reizungen zur Suͤnde und zur Tu-
gend hat, als der Greis, ſo unterſcheidet ſich auch der Winter von
andern Jahrszeiten durch beſondre Einladungen, welche er an unſer
Herz ergehen laͤßt. Ich muß demnach auf meiner Hut ſeyn, um
nicht durch Winterſuͤnden uͤberraſcht zu werden, die ſich dieſe
Monate hindurch von der reizendſten Seite zeigen, und ſich mir
wol gar als eine nothwendige Begleitung des Winters aufdraͤn-
gen moͤchten.
Das Stadt- und Landleben kommt jetzt darin uͤberein, daß
man eine ungeſunde Diaͤt haͤlt. Man bewegt ſich nicht genug,
genießt der freien Luft zu wenig, und unverdaulicher Speiſen zu
viel; im Fruͤhlinge brechen die Folgen davon aus, und man ſchreier
uͤber goͤttliche Strafen. Iſt es aber wol eine Kleinigkeit, wenn
wir uns ſelber langſam toͤdten, und zu weichlich ſind, unſre Ge-
ſundheit zu befoͤrdern? Weniger Betrachtungen uͤber die Werke
Gottes ſind eine der traurigſten Folgen des Winters. Keine Vlu-
me breitet jetzt ihren Schmuck vor uns aus; kein Konzert des
Waldes ladet uns ein; die Spaziergaͤnge ſind oͤde und unweg-
ſam; und Flur und Gaͤrten haben ein rauhes Anſehen. Jedoch,
welche nichtige Entſchuldigungen ſind das! Gleich als wenn die
Werke des Schoͤpfers ſaͤmtlich erſtorben waͤren! Hat nicht die
Ausſicht des Winters ihre Schoͤnheiten auch? Der jetzt fun-
kelnde geſtirnte Himmel; die mit Schnee warm bedeckte Felder;
Voͤgel welche der Hunger dreiſte macht, daß ſie ſich unſerer Woh-
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Matthias Boenig, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Li Xang: Bearbeitung und strukturelle Auszeichnung der durch die Grepect GmbH bereitgestellten Texttranskription.
(2023-05-24T12:24:22Z)
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 41[71]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/78>, abgerufen am 23.11.2024.
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