Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.Der 22te Januar. die schneidende Luft kommt. Denke ich mir noch unsre verschloßneWohnungen, welche jetzt den Klosterzellen nicht unähnlich sind, hinzu; imgleichen unsre gezwungne und ungesunde Zusammenkünf- te, womit wir den langen Abend verkürzen wollen, bei welchen sich aber der zusammengepreßte Körper mit Nahrung und Dämpfen überladet, so scheinet mir jeder gesund überlebte Tag eine überstan- dene Schlacht zu seyn, aus der ich ohne Wunden zurückkomme. Jedoch, nicht alle kommen unbeschädigt davon. Der späte Kurz: der Winter stellt unsrer Gesundheit und unserm mo- Der
Der 22te Januar. die ſchneidende Luft kommt. Denke ich mir noch unſre verſchloßneWohnungen, welche jetzt den Kloſterzellen nicht unaͤhnlich ſind, hinzu; imgleichen unſre gezwungne und ungeſunde Zuſammenkuͤnf- te, womit wir den langen Abend verkuͤrzen wollen, bei welchen ſich aber der zuſammengepreßte Koͤrper mit Nahrung und Daͤmpfen uͤberladet, ſo ſcheinet mir jeder geſund uͤberlebte Tag eine uͤberſtan- dene Schlacht zu ſeyn, aus der ich ohne Wunden zuruͤckkomme. Jedoch, nicht alle kommen unbeſchaͤdigt davon. Der ſpaͤte Kurz: der Winter ſtellt unſrer Geſundheit und unſerm mo- Der
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Der 22te Januar.
die ſchneidende Luft kommt. Denke ich mir noch unſre verſchloßne
Wohnungen, welche jetzt den Kloſterzellen nicht unaͤhnlich ſind,
hinzu; imgleichen unſre gezwungne und ungeſunde Zuſammenkuͤnf-
te, womit wir den langen Abend verkuͤrzen wollen, bei welchen ſich
aber der zuſammengepreßte Koͤrper mit Nahrung und Daͤmpfen
uͤberladet, ſo ſcheinet mir jeder geſund uͤberlebte Tag eine uͤberſtan-
dene Schlacht zu ſeyn, aus der ich ohne Wunden zuruͤckkomme.
Jedoch, nicht alle kommen unbeſchaͤdigt davon. Der ſpaͤte
Schmaus laͤßt ſich ſo leicht nicht unbezahlt abweiſen. Er greift
entweder den Koͤrper, oder die Heiterkeit und Unſchuld der Seele
an. Auf naͤchtlichen ſchwelgeriſchen Tafeln ſtehet auch Gift, und
der Tanzſaal iſt unterminiert. Ungeſchminkte Geſichter werden
nach Mitternacht immer blaͤſſer, gleich als wolte ihre Todtenfarbe
ſich einander nach Hauſe ſchrecken. Zugegeben, daß recht geſunde,
bejahrte und tugendhafte Perſonen dieſen Wintergefahren gluͤck-
lich zu entrinnen wiſſen: ſo zittre ich doch fuͤr dieſen ſchwaͤchlichen
Juͤngling, fuͤr jenes roſenwangigte Maͤdgen, und fuͤr jeden, der
nichts anders als ſeine Luſt denkt.
Kurz: der Winter ſtellt unſrer Geſundheit und unſerm mo-
raliſchen Charakter ſo haͤufig nach, daß er wie ſchluͤpfriges Eis,
mich behutſam wandeln, und dir, mein Erhalter! fuͤr jeden uͤber-
ſtandenen Tag inbruͤnſtig danken heißt. Zwar will ich auch ſein
Gutes nicht verkennen, und auch ſeine Luſtbarkeiten nicht verſchmaͤ-
hen, wenn ich ſie irgend mit unverletzter Geſundheit und Tugend
genieſſen kan: aber vorſichtiger ſollen mich doch auch ſeine tauſend
Gefahren machen; denn wie darf ein Unvorſichtiger ſich goͤttli-
cher Errettung getroͤſten? Ich will uͤber mich, und ſo viel moͤg-
lich auch uͤber andre wachen, auf daß uns der Winter nicht ſchaͤd-
lich werde. Du aber, allguͤtigſter Vater! gib mir ein weiſes Herz
dazu. Bis hieher haſt du mich ſo gnaͤdig geholfen: ach! werde
des Leitens nicht muͤde; ſondern fuͤhr mich, dein Kind, auf ebner
Bahn! Bewahr mich auch dieſe Winternacht vor allem Unheil:
nur unter deinem Schirm kan ich den Morgen erleben!
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(2023-05-24T12:24:22Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Britt-Marie Schuster, Alexander Geyken, Susanne Haaf, Christopher Georgi, Frauke Thielert, Linda Kirsten, t.evo: Die Evolution von komplexen Textmustern: Aufbau eines Korpus historischer Zeitungen zur Untersuchung der Mehrdimensionalität des Textmusterwandels
Weitere Informationen:Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
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