Denn 1) sie können kein Beweis unsrer Verwerflichkeit seyn, da Jesus spricht: Selig sind, die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Fühllossigkeit, Leichtsinn und Verstockung: das, das sind gefährliche Eigenschaften; dafür lieber zeitlebens ge- weint. 2) Sie sind ein Beweis göttlicher Bearbeitung. Ueber seine Unähnlichkeit mit Gott weinen, sich des Himmels noch im- mer für unwürdig halten, und nach größrer Gnade dürsten: das sind keine Früchte der verderbten Natur, sondern Würkungen des göttlichen Worts. 3) Freude ist gar nicht die Bedingung, unter welcher wir selig werden, sondern allein der Glaube an Jesum, und die daraus entspringende Rechtschaffenheit des Herzens sind es. Unsre Thränen sollen dort erst abgewischt werden. 4) Für viele Ge- müther sind Angst und Traurigkeit weit nützlicher, als an einan- der hangende heitre Tage; und demjenigen müssen sie am nützlich- sten seyn, dem Gott auf sein Gebet keine gänzliche Beruhigung und Freude schenkt. 5) Sollen ja unsre Empfindungen einen Ent- scheidungsgrund des Gnadenstandes mit abgeben, so ist die Trau- rigkeit ein sichrer Beweis davon, als das Vergnügen. Jene wird bei der Busse, obwol bei verschiednen Menschen nach verschiednen Graden, nothwendig erfodert: Freude aber ist eigentlich nur die Eigenschaft vollendeter Seligen. 6) Die Beispiele der heiligen Schrift reden mehr für eine reuige Wehmuth, als laute Freude. Jesus unser Muster hat ohne Zweifel auch fröliche Tage auf Er- den gehabt: aber nur das Andenken seiner Thränen ist uns auf- behalten. Hiob, Jakob, David, Jeremias, Petrus und an- dre haben mehr geächzet, als ich. Was beklage ich mich denn?
Aber mein äusserstes will ich thun, daß sich kein heimlicher Unglaube an Gottes Gnade, kein Verzweifeln an Jesu unendli- chem Verdienst, keine unverantwortliche Schwermuth meines Herzens bemeistre. Auch will ich meine Gesundheit besorgen, da- mit meine Vorstellungen nicht krank mit werden. Du, Vater! solst mir doch Vater seyn, wenn mir gleich Leib und Seele rer- schmachtet. Du köntest Gott nicht seyn, wenn du am Ende mich nicht erhörtest. Ich will mich freuen, daß ich mit Christo leide, und einst mit ihm zur Herrlichkeit erhaben werde. Was betrübst du dich also, meine Seele! und bist so unruhig in mir? Harre auf Gott: denn ich werde ihm noch danken, daß er meines An- gesichts Hülfe und mein Gott ist!
Der
Der 26te Januar.
Denn 1) ſie koͤnnen kein Beweis unſrer Verwerflichkeit ſeyn, da Jeſus ſpricht: Selig ſind, die da Leid tragen, denn ſie ſollen getroͤſtet werden. Fuͤhlloſſigkeit, Leichtſinn und Verſtockung: das, das ſind gefaͤhrliche Eigenſchaften; dafuͤr lieber zeitlebens ge- weint. 2) Sie ſind ein Beweis goͤttlicher Bearbeitung. Ueber ſeine Unaͤhnlichkeit mit Gott weinen, ſich des Himmels noch im- mer fuͤr unwuͤrdig halten, und nach groͤßrer Gnade duͤrſten: das ſind keine Fruͤchte der verderbten Natur, ſondern Wuͤrkungen des goͤttlichen Worts. 3) Freude iſt gar nicht die Bedingung, unter welcher wir ſelig werden, ſondern allein der Glaube an Jeſum, und die daraus entſpringende Rechtſchaffenheit des Herzens ſind es. Unſre Thraͤnen ſollen dort erſt abgewiſcht werden. 4) Fuͤr viele Ge- muͤther ſind Angſt und Traurigkeit weit nuͤtzlicher, als an einan- der hangende heitre Tage; und demjenigen muͤſſen ſie am nuͤtzlich- ſten ſeyn, dem Gott auf ſein Gebet keine gaͤnzliche Beruhigung und Freude ſchenkt. 5) Sollen ja unſre Empfindungen einen Ent- ſcheidungsgrund des Gnadenſtandes mit abgeben, ſo iſt die Trau- rigkeit ein ſichrer Beweis davon, als das Vergnuͤgen. Jene wird bei der Buſſe, obwol bei verſchiednen Menſchen nach verſchiednen Graden, nothwendig erfodert: Freude aber iſt eigentlich nur die Eigenſchaft vollendeter Seligen. 6) Die Beiſpiele der heiligen Schrift reden mehr fuͤr eine reuige Wehmuth, als laute Freude. Jeſus unſer Muſter hat ohne Zweifel auch froͤliche Tage auf Er- den gehabt: aber nur das Andenken ſeiner Thraͤnen iſt uns auf- behalten. Hiob, Jakob, David, Jeremias, Petrus und an- dre haben mehr geaͤchzet, als ich. Was beklage ich mich denn?
Aber mein aͤuſſerſtes will ich thun, daß ſich kein heimlicher Unglaube an Gottes Gnade, kein Verzweifeln an Jeſu unendli- chem Verdienſt, keine unverantwortliche Schwermuth meines Herzens bemeiſtre. Auch will ich meine Geſundheit beſorgen, da- mit meine Vorſtellungen nicht krank mit werden. Du, Vater! ſolſt mir doch Vater ſeyn, wenn mir gleich Leib und Seele rer- ſchmachtet. Du koͤnteſt Gott nicht ſeyn, wenn du am Ende mich nicht erhoͤrteſt. Ich will mich freuen, daß ich mit Chriſto leide, und einſt mit ihm zur Herrlichkeit erhaben werde. Was betruͤbſt du dich alſo, meine Seele! und biſt ſo unruhig in mir? Harre auf Gott: denn ich werde ihm noch danken, daß er meines An- geſichts Huͤlfe und mein Gott iſt!
Der
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[54[84]/0091]
Der 26te Januar.
Denn 1) ſie koͤnnen kein Beweis unſrer Verwerflichkeit
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ſollen getroͤſtet werden. Fuͤhlloſſigkeit, Leichtſinn und Verſtockung:
das, das ſind gefaͤhrliche Eigenſchaften; dafuͤr lieber zeitlebens ge-
weint. 2) Sie ſind ein Beweis goͤttlicher Bearbeitung. Ueber
ſeine Unaͤhnlichkeit mit Gott weinen, ſich des Himmels noch im-
mer fuͤr unwuͤrdig halten, und nach groͤßrer Gnade duͤrſten: das
ſind keine Fruͤchte der verderbten Natur, ſondern Wuͤrkungen des
goͤttlichen Worts. 3) Freude iſt gar nicht die Bedingung, unter
welcher wir ſelig werden, ſondern allein der Glaube an Jeſum,
und die daraus entſpringende Rechtſchaffenheit des Herzens ſind es.
Unſre Thraͤnen ſollen dort erſt abgewiſcht werden. 4) Fuͤr viele Ge-
muͤther ſind Angſt und Traurigkeit weit nuͤtzlicher, als an einan-
der hangende heitre Tage; und demjenigen muͤſſen ſie am nuͤtzlich-
ſten ſeyn, dem Gott auf ſein Gebet keine gaͤnzliche Beruhigung
und Freude ſchenkt. 5) Sollen ja unſre Empfindungen einen Ent-
ſcheidungsgrund des Gnadenſtandes mit abgeben, ſo iſt die Trau-
rigkeit ein ſichrer Beweis davon, als das Vergnuͤgen. Jene wird
bei der Buſſe, obwol bei verſchiednen Menſchen nach verſchiednen
Graden, nothwendig erfodert: Freude aber iſt eigentlich nur die
Eigenſchaft vollendeter Seligen. 6) Die Beiſpiele der heiligen
Schrift reden mehr fuͤr eine reuige Wehmuth, als laute Freude.
Jeſus unſer Muſter hat ohne Zweifel auch froͤliche Tage auf Er-
den gehabt: aber nur das Andenken ſeiner Thraͤnen iſt uns auf-
behalten. Hiob, Jakob, David, Jeremias, Petrus und an-
dre haben mehr geaͤchzet, als ich. Was beklage ich mich denn?
Aber mein aͤuſſerſtes will ich thun, daß ſich kein heimlicher
Unglaube an Gottes Gnade, kein Verzweifeln an Jeſu unendli-
chem Verdienſt, keine unverantwortliche Schwermuth meines
Herzens bemeiſtre. Auch will ich meine Geſundheit beſorgen, da-
mit meine Vorſtellungen nicht krank mit werden. Du, Vater!
ſolſt mir doch Vater ſeyn, wenn mir gleich Leib und Seele rer-
ſchmachtet. Du koͤnteſt Gott nicht ſeyn, wenn du am Ende mich
nicht erhoͤrteſt. Ich will mich freuen, daß ich mit Chriſto leide,
und einſt mit ihm zur Herrlichkeit erhaben werde. Was betruͤbſt
du dich alſo, meine Seele! und biſt ſo unruhig in mir? Harre
auf Gott: denn ich werde ihm noch danken, daß er meines An-
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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 54[84]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/91>, abgerufen am 23.11.2024.
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