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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 28te Januar.
mal süsses Gift, und höchst gefährliche Lustbarkeiten versagen mag?
Tag und Nacht gedenke ich ja fast blos an mich. -- Ich arbeite,
empfinde, lache, weine nur für -- mich. Und wenn ich auch würk-
lich dann und wann einem meiner Mitbrüder gutes thue und ihn
liebe, so geschiehet doch auch das meistens auf Kosten andrer;
denn ich selbst gebe sie nicht gerne dazu her. Wer darbt seiner
Tafel, Kleidung und Gemächlichkeit zum Behuf der Armen etwas
ab? Man mögte wol den Ruhm der Grosmut und Barmherzig-
keit haben; aber andre sollen die Hände dazu reichen; man will nur
vermitteln. Jedoch, es sey, daß ich mit Wahrheit sagen könne:
diesen hier und jenen da, habe ich als ein Christ treu und uneigen-
nützig geliebt: so bleibe ich doch noch immer ein Schuldner. Denn,
indem ich den Einen sättigte, und nun mit mir selbst darüber lieb-
äugelte, so schmachteten zehn andre neben mir nach Hülfe. Zween
bekamen von mir, und funfzig giengen leer aus!

Seyd niemand nichts schuldig, denn daß ihr euch unter ein-
ander liebet. Dieser Befehl der heiligen Schrift verbindet mich zum
genauesten Fleiß in der Nächstenliebe, aber auch zum rühmlichen
Bekentniß: daß ich ein Schuldner in der Liebe sey. Und wer bin
ich denn nun vor dir, mein nie genug geliebter Gott? Ach! wenn
ich alles gethan hätte, so wolte ich doch gestehen: ich bin ein un-
nützer Knecht! Vater! wie könte ich dich genug lieben, da ich
meinen Bruder so frostig liebe? Wo sind deine Kinder, welche
jetzt meiner vor dir als ihres Wohlthäters und zärtlichen Freundes
in ihrem Abendgebete gedenken! Wo sind die Familien, welche
Ströme von Zähren vergiessen würden, wenn mir in dieser Nacht
ein Unfall zustiesse! Vater! ich habe gesündiget im Himmel und
vor dir! Brüder! ich habe gesündiget auf Erden und vor euch!
Vergebt mir, auf daß Gott uns allen vergeben könne! In eure
Stelle, meine Mitmenschen! will ich mich bei aller Gelegenheit
setzen, und mich fragen: was wünschtest du dir? Die Antwort
darauf soll die Richtschnur meines Betragens gegen euch seyn,
und dann will ich, wenn mir von allen Seiten Dank und Liebe
zugestamlet wird, offenherzig bekennen: daß ich noch immer euer
Schuldner bin! Herr! stärke meinen Vorsatz und erlaß mir alle
Schuld, denn ich schäme mich nicht sie zu bekennen, und Besse-
rung anzugeloben!

Der

Der 28te Januar.
mal ſuͤſſes Gift, und hoͤchſt gefaͤhrliche Luſtbarkeiten verſagen mag?
Tag und Nacht gedenke ich ja faſt blos an mich. — Ich arbeite,
empfinde, lache, weine nur fuͤr — mich. Und wenn ich auch wuͤrk-
lich dann und wann einem meiner Mitbruͤder gutes thue und ihn
liebe, ſo geſchiehet doch auch das meiſtens auf Koſten andrer;
denn ich ſelbſt gebe ſie nicht gerne dazu her. Wer darbt ſeiner
Tafel, Kleidung und Gemaͤchlichkeit zum Behuf der Armen etwas
ab? Man moͤgte wol den Ruhm der Grosmut und Barmherzig-
keit haben; aber andre ſollen die Haͤnde dazu reichen; man will nur
vermitteln. Jedoch, es ſey, daß ich mit Wahrheit ſagen koͤnne:
dieſen hier und jenen da, habe ich als ein Chriſt treu und uneigen-
nuͤtzig geliebt: ſo bleibe ich doch noch immer ein Schuldner. Denn,
indem ich den Einen ſaͤttigte, und nun mit mir ſelbſt daruͤber lieb-
aͤugelte, ſo ſchmachteten zehn andre neben mir nach Huͤlfe. Zween
bekamen von mir, und funfzig giengen leer aus!

Seyd niemand nichts ſchuldig, denn daß ihr euch unter ein-
ander liebet. Dieſer Befehl der heiligen Schrift verbindet mich zum
genaueſten Fleiß in der Naͤchſtenliebe, aber auch zum ruͤhmlichen
Bekentniß: daß ich ein Schuldner in der Liebe ſey. Und wer bin
ich denn nun vor dir, mein nie genug geliebter Gott? Ach! wenn
ich alles gethan haͤtte, ſo wolte ich doch geſtehen: ich bin ein un-
nuͤtzer Knecht! Vater! wie koͤnte ich dich genug lieben, da ich
meinen Bruder ſo froſtig liebe? Wo ſind deine Kinder, welche
jetzt meiner vor dir als ihres Wohlthaͤters und zaͤrtlichen Freundes
in ihrem Abendgebete gedenken! Wo ſind die Familien, welche
Stroͤme von Zaͤhren vergieſſen wuͤrden, wenn mir in dieſer Nacht
ein Unfall zuſtieſſe! Vater! ich habe geſuͤndiget im Himmel und
vor dir! Bruͤder! ich habe geſuͤndiget auf Erden und vor euch!
Vergebt mir, auf daß Gott uns allen vergeben koͤnne! In eure
Stelle, meine Mitmenſchen! will ich mich bei aller Gelegenheit
ſetzen, und mich fragen: was wuͤnſchteſt du dir? Die Antwort
darauf ſoll die Richtſchnur meines Betragens gegen euch ſeyn,
und dann will ich, wenn mir von allen Seiten Dank und Liebe
zugeſtamlet wird, offenherzig bekennen: daß ich noch immer euer
Schuldner bin! Herr! ſtaͤrke meinen Vorſatz und erlaß mir alle
Schuld, denn ich ſchaͤme mich nicht ſie zu bekennen, und Beſſe-
rung anzugeloben!

Der
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[58[88]/0095] Der 28te Januar. mal ſuͤſſes Gift, und hoͤchſt gefaͤhrliche Luſtbarkeiten verſagen mag? Tag und Nacht gedenke ich ja faſt blos an mich. — Ich arbeite, empfinde, lache, weine nur fuͤr — mich. Und wenn ich auch wuͤrk- lich dann und wann einem meiner Mitbruͤder gutes thue und ihn liebe, ſo geſchiehet doch auch das meiſtens auf Koſten andrer; denn ich ſelbſt gebe ſie nicht gerne dazu her. Wer darbt ſeiner Tafel, Kleidung und Gemaͤchlichkeit zum Behuf der Armen etwas ab? Man moͤgte wol den Ruhm der Grosmut und Barmherzig- keit haben; aber andre ſollen die Haͤnde dazu reichen; man will nur vermitteln. Jedoch, es ſey, daß ich mit Wahrheit ſagen koͤnne: dieſen hier und jenen da, habe ich als ein Chriſt treu und uneigen- nuͤtzig geliebt: ſo bleibe ich doch noch immer ein Schuldner. Denn, indem ich den Einen ſaͤttigte, und nun mit mir ſelbſt daruͤber lieb- aͤugelte, ſo ſchmachteten zehn andre neben mir nach Huͤlfe. Zween bekamen von mir, und funfzig giengen leer aus! Seyd niemand nichts ſchuldig, denn daß ihr euch unter ein- ander liebet. Dieſer Befehl der heiligen Schrift verbindet mich zum genaueſten Fleiß in der Naͤchſtenliebe, aber auch zum ruͤhmlichen Bekentniß: daß ich ein Schuldner in der Liebe ſey. Und wer bin ich denn nun vor dir, mein nie genug geliebter Gott? Ach! wenn ich alles gethan haͤtte, ſo wolte ich doch geſtehen: ich bin ein un- nuͤtzer Knecht! Vater! wie koͤnte ich dich genug lieben, da ich meinen Bruder ſo froſtig liebe? Wo ſind deine Kinder, welche jetzt meiner vor dir als ihres Wohlthaͤters und zaͤrtlichen Freundes in ihrem Abendgebete gedenken! Wo ſind die Familien, welche Stroͤme von Zaͤhren vergieſſen wuͤrden, wenn mir in dieſer Nacht ein Unfall zuſtieſſe! Vater! ich habe geſuͤndiget im Himmel und vor dir! Bruͤder! ich habe geſuͤndiget auf Erden und vor euch! Vergebt mir, auf daß Gott uns allen vergeben koͤnne! In eure Stelle, meine Mitmenſchen! will ich mich bei aller Gelegenheit ſetzen, und mich fragen: was wuͤnſchteſt du dir? Die Antwort darauf ſoll die Richtſchnur meines Betragens gegen euch ſeyn, und dann will ich, wenn mir von allen Seiten Dank und Liebe zugeſtamlet wird, offenherzig bekennen: daß ich noch immer euer Schuldner bin! Herr! ſtaͤrke meinen Vorſatz und erlaß mir alle Schuld, denn ich ſchaͤme mich nicht ſie zu bekennen, und Beſſe- rung anzugeloben! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 58[88]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/95>, abgerufen am 23.11.2024.