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Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775.

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Der 29te Januar.
den seyn, sonst hätte der Allweise meiner Seele eine andre R[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
tung, und meiner Sehnsucht nach Daseyn weniger Stärke ge[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
ben. Ich will leben: das ist der schärfste Beweis, daß ich
soll. Das neugeborne Kind drehet sich nach der Brust, und [unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
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Kinde liebloser verfahren? Solte er mir den Tod reichen, we[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
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bes nicht das geringste. Wenn jener Altvater noch Häuser[unleserliches Material - 1 Zeichen fehlt]
und Gärten anlegt, und jene Altmutter ihre Haare färbt und wie
eine Dirne gaukelt: so ist das verkehrte Anwendung eines innem
Zurufs: du solst erst recht anfangen zu leben. Jener solte sich
eine ewige Hütte bauen; und diese ihre Seelenkräfte, aber nicht
ihren verfallenen Körper verjüngen. Genung die Anweisung
zum Leben ist da. Selbst der karge Greis würde nicht zu ver-
hungern befürchten, wenn diese Hofnung des Lebens nicht stärker
auf ihn würkte, als alle noch so triftige Gründe der Moral, oder
als aller Witz der Satyre.

Ja! ewig soll ich leben. Jede Ader in mir klopfet diesen
Beruf. Ich werde in Ewigkeit nicht sagen: es ist genung! und
du, Herr und Freund des Lebens! kanst und wirst es auch nicht
sagen. Ewig bin ich vorhanden? -- Gott! welch ein Reiz
zum Dank und zur Frömmigkeit! Und solte ich diese Nacht ster-
ben: dennoch bin ich ewig bei dir, mein Gott!

Der

Der 29te Januar.
den ſeyn, ſonſt haͤtte der Allweiſe meiner Seele eine andre R[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]
tung, und meiner Sehnſucht nach Daſeyn weniger Staͤrke ge[unleserliches Material – 1 Zeichen fehlt]
ben. Ich will leben: das iſt der ſchaͤrfſte Beweis, daß ich
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eine Dirne gaukelt: ſo iſt das verkehrte Anwendung eines innem
Zurufs: du ſolſt erſt recht anfangen zu leben. Jener ſolte ſich
eine ewige Huͤtte bauen; und dieſe ihre Seelenkraͤfte, aber nicht
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zum Leben iſt da. Selbſt der karge Greis wuͤrde nicht zu ver-
hungern befuͤrchten, wenn dieſe Hofnung des Lebens nicht ſtaͤrker
auf ihn wuͤrkte, als alle noch ſo triftige Gruͤnde der Moral, oder
als aller Witz der Satyre.

Ja! ewig ſoll ich leben. Jede Ader in mir klopfet dieſen
Beruf. Ich werde in Ewigkeit nicht ſagen: es iſt genung! und
du, Herr und Freund des Lebens! kanſt und wirſt es auch nicht
ſagen. Ewig bin ich vorhanden? — Gott! welch ein Reiz
zum Dank und zur Froͤmmigkeit! Und ſolte ich dieſe Nacht ſter-
ben: dennoch bin ich ewig bei dir, mein Gott!

Der
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[60[90]/0097] Der 29te Januar. den ſeyn, ſonſt haͤtte der Allweiſe meiner Seele eine andre R_ tung, und meiner Sehnſucht nach Daſeyn weniger Staͤrke ge_ ben. Ich will leben: das iſt der ſchaͤrfſte Beweis, daß ich ſoll. Das neugeborne Kind drehet ſich nach der Bruſt, und _ Allguͤtige hat ſie ihm beſorgt: ſolte er mit mir verſtaͤndige_ Kinde liebloſer verfahren? Solte er mir den Tod reichen, we_ ich ihn um Leben bitte, und zwar um Leben zu ſeinem Ruhm_ Wozu anders Verſtand, als zur Ehre Gottes? und wozu E_ wicklung und Ausbildung dieſes Verſtandes, als um ihn, na_ zuruͤckgelegter grauen Kindheit, in jener Welt zur Verherr_ chung des Allerhoͤchſten gebrauchen zu koͤnnen? Die Sehnſucht nach Leben iſt ein untriegliches Werk Go_ tes, und kein Nationaltrieb dieſes oder jenen Volks. Von eine_ Pole zum andern ſtimmt man hierin uͤberein. Daß aber der _ ſinnliche Menſch ſich in dieſes Leben hienieden vergafft, und _ dieſer Wiege ſein ganzes Daſeyn zubringen will: das iſt die hoͤch_ ſte Thorheit; benimt aber dem innern Werthe dieſes edlen Trie_ bes nicht das geringſte. Wenn jener Altvater noch Haͤuſer_ und Gaͤrten anlegt, und jene Altmutter ihre Haare faͤrbt und wie eine Dirne gaukelt: ſo iſt das verkehrte Anwendung eines innem Zurufs: du ſolſt erſt recht anfangen zu leben. Jener ſolte ſich eine ewige Huͤtte bauen; und dieſe ihre Seelenkraͤfte, aber nicht ihren verfallenen Koͤrper verjuͤngen. Genung die Anweiſung zum Leben iſt da. Selbſt der karge Greis wuͤrde nicht zu ver- hungern befuͤrchten, wenn dieſe Hofnung des Lebens nicht ſtaͤrker auf ihn wuͤrkte, als alle noch ſo triftige Gruͤnde der Moral, oder als aller Witz der Satyre. Ja! ewig ſoll ich leben. Jede Ader in mir klopfet dieſen Beruf. Ich werde in Ewigkeit nicht ſagen: es iſt genung! und du, Herr und Freund des Lebens! kanſt und wirſt es auch nicht ſagen. Ewig bin ich vorhanden? — Gott! welch ein Reiz zum Dank und zur Froͤmmigkeit! Und ſolte ich dieſe Nacht ſter- ben: dennoch bin ich ewig bei dir, mein Gott! Der

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Zitationshilfe: Tiede, Johann Friedrich: Unterhaltungen mit Gott in den Abendstunden. Halle, 1775, S. 60[90]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tiede_unterhaltungen01_1775/97>, abgerufen am 22.11.2024.