die Möglichkeit von Actionen, und Wille als die Wirklich- keit derselben, welche bisher zusammenbegriffen wurden, auseinander: jene als ein geronnener und fester, substan- tieller Wille, dieser als Function, daher sich zersetzende, flüssige Kraft -- ein Verhältniss wie von potentieller zu kinetischer Energie. Und während nun im Allgemeinen die Kräfte und Fähigkeiten als empfangene Gaben -- des Schicksals oder eines Gottes -- erscheinen, so wird als Urheber gethaner Arbeit, sowohl ihrer Ergebnisse als der Fähigkeiten an und für sich, der Mensch selber, in seiner beharrenden Einheit und Individualität, verstanden; nicht in dem besonderen und nachher zu betrachtenden Sinne, dass er sie (vorher, in Gedanken) gewollt oder gewählt habe, und auch anders wollen konnte; sondern, auch wenn Thätigkeit und Wille als identisch genommen werden, so scheint aus dem gesammten und allgemeinen Willen der einzelne und besondere Wille zu fliessen, entsprungen zu sein. Nach den hier zu Grunde gelegten Bestimmungen ist der Unterschied wesentlich der von blosser Entwicklung und hingegen: eigentlicher Uebung (nebst lernender Aus- bildung und Anwendung) gegebener Anlagen. An der Uebung nimmt der ganze, schon entwickelte Mensch, nehmen insonderheit seine specifischen Eigenschaften: Verstand, Vernunft, physiologisch ausgedrückt: die Centren seines grossen Gehirns, vollkommenen Antheil. Daher trifft das Urtheil über die Thätigkeit oder den einzelnen Willen, das gesammte Wesen, als zureichende Ursache oder involviren- des Ganzes: wenn es anders wäre, so wäre auch die Wir- kung oder der Theil anders; weil es so ist, so muss die Wirkung oder der Theil also sein. An dem gesammten Wesenwillen werden daher dauernde Eigenschaften unter- schieden, welche ihn nicht sowohl als Kraft und Substanz, sondern, in dem bezeichneten Sinne, als Willen und Thätig- keit expliciren: diese sind, wenn gross und bedeutend, seine besonderen Vorzüge, Tüchtigkeiten, Tugenden. Und zwar: die allgemeine Tugend ist Energie -- auch That- kraft oder Willenskraft geheissen; als ihr besonderer Aus- druck kann im Gebiete der Thaten Tapferkeit, im Ge- biete der Werke Fleiss (oder Ernst, Eifer, Sorgfalt) hin-
die Möglichkeit von Actionen, und Wille als die Wirklich- keit derselben, welche bisher zusammenbegriffen wurden, auseinander: jene als ein geronnener und fester, substan- tieller Wille, dieser als Function, daher sich zersetzende, flüssige Kraft — ein Verhältniss wie von potentieller zu kinetischer Energie. Und während nun im Allgemeinen die Kräfte und Fähigkeiten als empfangene Gaben — des Schicksals oder eines Gottes — erscheinen, so wird als Urheber gethaner Arbeit, sowohl ihrer Ergebnisse als der Fähigkeiten an und für sich, der Mensch selber, in seiner beharrenden Einheit und Individualität, verstanden; nicht in dem besonderen und nachher zu betrachtenden Sinne, dass er sie (vorher, in Gedanken) gewollt oder gewählt habe, und auch anders wollen konnte; sondern, auch wenn Thätigkeit und Wille als identisch genommen werden, so scheint aus dem gesammten und allgemeinen Willen der einzelne und besondere Wille zu fliessen, entsprungen zu sein. Nach den hier zu Grunde gelegten Bestimmungen ist der Unterschied wesentlich der von blosser Entwicklung und hingegen: eigentlicher Uebung (nebst lernender Aus- bildung und Anwendung) gegebener Anlagen. An der Uebung nimmt der ganze, schon entwickelte Mensch, nehmen insonderheit seine specifischen Eigenschaften: Verstand, Vernunft, physiologisch ausgedrückt: die Centren seines grossen Gehirns, vollkommenen Antheil. Daher trifft das Urtheil über die Thätigkeit oder den einzelnen Willen, das gesammte Wesen, als zureichende Ursache oder involviren- des Ganzes: wenn es anders wäre, so wäre auch die Wir- kung oder der Theil anders; weil es so ist, so muss die Wirkung oder der Theil also sein. An dem gesammten Wesenwillen werden daher dauernde Eigenschaften unter- schieden, welche ihn nicht sowohl als Kraft und Substanz, sondern, in dem bezeichneten Sinne, als Willen und Thätig- keit expliciren: diese sind, wenn gross und bedeutend, seine besonderen Vorzüge, Tüchtigkeiten, Tugenden. Und zwar: die allgemeine Tugend ist Energie — auch That- kraft oder Willenskraft geheissen; als ihr besonderer Aus- druck kann im Gebiete der Thaten Tapferkeit, im Ge- biete der Werke Fleiss (oder Ernst, Eifer, Sorgfalt) hin-
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tieller Wille, dieser als Function, daher sich zersetzende,
flüssige Kraft — ein Verhältniss wie von potentieller zu
kinetischer Energie. Und während nun im Allgemeinen
die Kräfte und Fähigkeiten als empfangene Gaben — des
Schicksals oder eines Gottes — erscheinen, so wird als
Urheber gethaner Arbeit, sowohl ihrer Ergebnisse als der
Fähigkeiten an und für sich, der Mensch selber, in seiner
beharrenden Einheit und Individualität, verstanden; nicht
in dem besonderen und nachher zu betrachtenden Sinne,
dass er sie (vorher, in Gedanken) gewollt oder gewählt
habe, und auch anders wollen konnte; sondern, auch
wenn Thätigkeit und Wille als identisch genommen werden,
so scheint aus dem gesammten und allgemeinen Willen der
einzelne und besondere Wille zu fliessen, entsprungen zu
sein. Nach den hier zu Grunde gelegten Bestimmungen
ist der Unterschied wesentlich der von blosser Entwicklung
und hingegen: eigentlicher Uebung (nebst lernender Aus-
bildung und Anwendung) gegebener Anlagen. An der
Uebung nimmt der ganze, schon entwickelte Mensch, nehmen
insonderheit seine specifischen Eigenschaften: Verstand,
Vernunft, physiologisch ausgedrückt: die Centren seines
grossen Gehirns, vollkommenen Antheil. Daher trifft das
Urtheil über die Thätigkeit oder den einzelnen Willen, das
gesammte Wesen, als zureichende Ursache oder involviren-
des Ganzes: wenn es anders wäre, so wäre auch die Wir-
kung oder der Theil anders; weil es so ist, so muss die
Wirkung oder der Theil also sein. An dem gesammten
Wesenwillen werden daher dauernde Eigenschaften unter-
schieden, welche ihn nicht sowohl als Kraft und Substanz,
sondern, in dem bezeichneten Sinne, als Willen und Thätig-
keit expliciren: diese sind, wenn gross und bedeutend, seine
besonderen Vorzüge, Tüchtigkeiten, Tugenden. Und
zwar: die allgemeine Tugend ist Energie — auch That-
kraft oder Willenskraft geheissen; als ihr besonderer Aus-
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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/156>, abgerufen am 21.11.2024.
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