Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

so wenig in unmittelbarer Weise gelegen als an ihrem Heile;
aber dieses wie jenes kann er mit Absicht befördern, wenn
es seinen Zwecken zu dienen scheint. Eine reine und
allgemeine Bosheit hingegen ist eben so selten, ja fast un-
möglich, als eine reine und allgemeine Güte "des Herzens",
und derselbigen correlat. Von Natur ist jeder Mensch gut
und freundlich gegen seine Freunde und die er dafür
halten mag (welche gut gegen ihn sind); aber böse und
feindlich gesinnt wider seine Feinde (die ihn misshandeln,
ihn angreifen oder ihm drohen). Jener abstracte und künst-
liche Mensch hat nicht Freund, nicht Feind, ist auch weder
das Eine noch das Andere, sondern kennt nur Alliirte oder
Gegner in Bezug auf die von ihm verfolgten Ziele; beide
sind ihm nur Kräfte oder Mächte, und die Gefühle des
Hasses und Zornes so ungehörig gegen die einen, wie die
der Liebe und des Mitleides für die Anderen. Wenn je
solche in ihm vorhanden sind oder entstehen, so empfindet
sein Denken sie als etwas Fremdes, Störendes, Unvernünf-
tiges, welches zu unterdrücken, ja auszurotten, eher als zu
hegen und zu pflegen, seine Aufgabe ist; denn sie involviren
eine Bejahung und Verneinung, welche nicht mehr durch
die eigenen Interessen und Pläne bedingt und beschränkt
ist, verführen also zu unbesonnenen Acten. Er mag nun
allerdings, feindselig verfahrend, oder überhaupt, so dass er
alle anderen Menschen wie Dinge als seine Mittel und
Werkzeuge behandelt, böse sein und erscheinen gegenüber
seinem eigenen Gemüth und Gewissen -- was immerhin
voraussetzt, dass solche Mächte noch in ihm lebendig sind
und dass sie ein entgegengesetztes Verhalten heischen; wie
sie es wenigstens in Bezug auf die Angehörigen und Freunde
wirklich thun. So auch von dem Gemüth und Gewissen
Anderer, welche an seine Stelle sich versetzen. Und von
dieser Meinung, dass die Böse-Handelnden doch noch ein
abmahnendes Gemüth (und also eine natürliche Güte des-
selben) wirklich haben, dass in ihnen die Stimme des
Gewissens nicht ganz und gar "betäubt" und tot sei,
machen sich die Menschen, wie wir sie kennen, ungern los
(eine Erscheinung, deren Ursächlichkeit uns hier nicht an-
geht): darum denn auch ein "böses Gewissen" immer noch

so wenig in unmittelbarer Weise gelegen als an ihrem Heile;
aber dieses wie jenes kann er mit Absicht befördern, wenn
es seinen Zwecken zu dienen scheint. Eine reine und
allgemeine Bosheit hingegen ist eben so selten, ja fast un-
möglich, als eine reine und allgemeine Güte »des Herzens«,
und derselbigen correlat. Von Natur ist jeder Mensch gut
und freundlich gegen seine Freunde und die er dafür
halten mag (welche gut gegen ihn sind); aber böse und
feindlich gesinnt wider seine Feinde (die ihn misshandeln,
ihn angreifen oder ihm drohen). Jener abstracte und künst-
liche Mensch hat nicht Freund, nicht Feind, ist auch weder
das Eine noch das Andere, sondern kennt nur Alliirte oder
Gegner in Bezug auf die von ihm verfolgten Ziele; beide
sind ihm nur Kräfte oder Mächte, und die Gefühle des
Hasses und Zornes so ungehörig gegen die einen, wie die
der Liebe und des Mitleides für die Anderen. Wenn je
solche in ihm vorhanden sind oder entstehen, so empfindet
sein Denken sie als etwas Fremdes, Störendes, Unvernünf-
tiges, welches zu unterdrücken, ja auszurotten, eher als zu
hegen und zu pflegen, seine Aufgabe ist; denn sie involviren
eine Bejahung und Verneinung, welche nicht mehr durch
die eigenen Interessen und Pläne bedingt und beschränkt
ist, verführen also zu unbesonnenen Acten. Er mag nun
allerdings, feindselig verfahrend, oder überhaupt, so dass er
alle anderen Menschen wie Dinge als seine Mittel und
Werkzeuge behandelt, böse sein und erscheinen gegenüber
seinem eigenen Gemüth und Gewissen — was immerhin
voraussetzt, dass solche Mächte noch in ihm lebendig sind
und dass sie ein entgegengesetztes Verhalten heischen; wie
sie es wenigstens in Bezug auf die Angehörigen und Freunde
wirklich thun. So auch von dem Gemüth und Gewissen
Anderer, welche an seine Stelle sich versetzen. Und von
dieser Meinung, dass die Böse-Handelnden doch noch ein
abmahnendes Gemüth (und also eine natürliche Güte des-
selben) wirklich haben, dass in ihnen die Stimme des
Gewissens nicht ganz und gar »betäubt« und tot sei,
machen sich die Menschen, wie wir sie kennen, ungern los
(eine Erscheinung, deren Ursächlichkeit uns hier nicht an-
geht): darum denn auch ein »böses Gewissen« immer noch

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0173" n="137"/>
so wenig in unmittelbarer Weise gelegen als an ihrem Heile;<lb/>
aber dieses wie jenes kann er mit Absicht befördern, wenn<lb/>
es seinen Zwecken zu dienen scheint. Eine reine und<lb/>
allgemeine Bosheit hingegen ist eben so selten, ja fast un-<lb/>
möglich, als eine reine und allgemeine Güte »des Herzens«,<lb/>
und derselbigen correlat. Von Natur ist jeder Mensch gut<lb/>
und freundlich gegen seine Freunde und die er dafür<lb/>
halten mag (welche gut gegen <hi rendition="#g">ihn</hi> sind); aber böse und<lb/>
feindlich gesinnt wider seine Feinde (die ihn misshandeln,<lb/>
ihn angreifen oder ihm drohen). Jener abstracte und künst-<lb/>
liche Mensch hat nicht Freund, nicht Feind, ist auch weder<lb/>
das Eine noch das Andere, sondern kennt nur Alliirte oder<lb/>
Gegner in Bezug auf die von ihm verfolgten Ziele; beide<lb/>
sind ihm nur Kräfte oder Mächte, und die Gefühle des<lb/>
Hasses und Zornes so ungehörig gegen die einen, wie die<lb/>
der Liebe und des Mitleides für die Anderen. Wenn je<lb/>
solche in ihm vorhanden sind oder entstehen, so empfindet<lb/>
sein Denken sie als etwas Fremdes, Störendes, Unvernünf-<lb/>
tiges, welches zu unterdrücken, ja auszurotten, eher als zu<lb/>
hegen und zu pflegen, seine Aufgabe ist; denn sie involviren<lb/>
eine Bejahung und Verneinung, welche nicht mehr durch<lb/>
die eigenen Interessen und Pläne bedingt und beschränkt<lb/>
ist, verführen also zu unbesonnenen Acten. Er mag nun<lb/>
allerdings, feindselig verfahrend, oder überhaupt, so dass er<lb/>
alle anderen Menschen wie Dinge als seine Mittel und<lb/>
Werkzeuge behandelt, böse sein und erscheinen gegenüber<lb/>
seinem eigenen Gemüth und Gewissen &#x2014; was immerhin<lb/>
voraussetzt, dass solche Mächte noch in ihm lebendig sind<lb/>
und dass sie ein entgegengesetztes Verhalten heischen; wie<lb/>
sie es wenigstens in Bezug auf die Angehörigen und Freunde<lb/>
wirklich thun. So auch von dem Gemüth und Gewissen<lb/>
Anderer, welche an seine Stelle sich versetzen. Und von<lb/>
dieser Meinung, dass die Böse-Handelnden doch noch ein<lb/>
abmahnendes Gemüth (und also eine natürliche Güte des-<lb/>
selben) wirklich <hi rendition="#g">haben</hi>, dass in ihnen die Stimme des<lb/>
Gewissens nicht ganz und gar »betäubt« und tot sei,<lb/>
machen sich die Menschen, wie wir sie kennen, ungern los<lb/>
(eine Erscheinung, deren Ursächlichkeit uns hier nicht an-<lb/>
geht): darum denn auch ein »böses Gewissen« immer noch<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[137/0173] so wenig in unmittelbarer Weise gelegen als an ihrem Heile; aber dieses wie jenes kann er mit Absicht befördern, wenn es seinen Zwecken zu dienen scheint. Eine reine und allgemeine Bosheit hingegen ist eben so selten, ja fast un- möglich, als eine reine und allgemeine Güte »des Herzens«, und derselbigen correlat. Von Natur ist jeder Mensch gut und freundlich gegen seine Freunde und die er dafür halten mag (welche gut gegen ihn sind); aber böse und feindlich gesinnt wider seine Feinde (die ihn misshandeln, ihn angreifen oder ihm drohen). Jener abstracte und künst- liche Mensch hat nicht Freund, nicht Feind, ist auch weder das Eine noch das Andere, sondern kennt nur Alliirte oder Gegner in Bezug auf die von ihm verfolgten Ziele; beide sind ihm nur Kräfte oder Mächte, und die Gefühle des Hasses und Zornes so ungehörig gegen die einen, wie die der Liebe und des Mitleides für die Anderen. Wenn je solche in ihm vorhanden sind oder entstehen, so empfindet sein Denken sie als etwas Fremdes, Störendes, Unvernünf- tiges, welches zu unterdrücken, ja auszurotten, eher als zu hegen und zu pflegen, seine Aufgabe ist; denn sie involviren eine Bejahung und Verneinung, welche nicht mehr durch die eigenen Interessen und Pläne bedingt und beschränkt ist, verführen also zu unbesonnenen Acten. Er mag nun allerdings, feindselig verfahrend, oder überhaupt, so dass er alle anderen Menschen wie Dinge als seine Mittel und Werkzeuge behandelt, böse sein und erscheinen gegenüber seinem eigenen Gemüth und Gewissen — was immerhin voraussetzt, dass solche Mächte noch in ihm lebendig sind und dass sie ein entgegengesetztes Verhalten heischen; wie sie es wenigstens in Bezug auf die Angehörigen und Freunde wirklich thun. So auch von dem Gemüth und Gewissen Anderer, welche an seine Stelle sich versetzen. Und von dieser Meinung, dass die Böse-Handelnden doch noch ein abmahnendes Gemüth (und also eine natürliche Güte des- selben) wirklich haben, dass in ihnen die Stimme des Gewissens nicht ganz und gar »betäubt« und tot sei, machen sich die Menschen, wie wir sie kennen, ungern los (eine Erscheinung, deren Ursächlichkeit uns hier nicht an- geht): darum denn auch ein »böses Gewissen« immer noch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/173
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 137. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/173>, abgerufen am 24.11.2024.