den an der Scholle klebenden Bauern, wie auch gegen den soliden, des Handwerkes pflegenden Bürger dar. Diese sind beschränkt, unreif, ungebildet im Vergleiche zu jenem. Wir werden belehrt: "Ist ein Volk schon reif genug, um des eigentlichen Handels zu bedürfen, aber noch zu unreif, um selbst einen nationalen Kaufmannsstand zu haben: so liegt es in seinem eigenen Interesse, dass ein fremdes höher cultivirtes Volk durch einen sehr tief ein- dringenden Activhandel einstweilen die Lücke ausfülle" (Roscher N. Oe. III, S. 134). Aber in Wahrheit ist dies niemals ein Verhältniss von Volk zu Volk, sondern von einzelnen zerstreuten Fremden (obgleich sie in Bezug auf sich selber eine Volksgemeinschaft haben mögen) zu einem wirklichen Volke; da solches ohne ein wenigstens bewohntes (wenn nicht bebautes) eigenes Land nicht gedacht werden kann. Und wo der Handelsmann nicht Fremder ist, da wird er als ein Fremder geachtet. "Der Korn- händler ist niemals (in Indien) Inhaber eines erblichen und in die Dorfgemeinde einverleibten Gewerbes, noch ist er ein Mitglied der Bürgerschaft in Städten, die aus einem oder mehreren Dörfern erwachsen sind. Die Handels- betriebe, welche solchergestalt ausserhalb der organischen Gruppe bleiben, sind diejenigen, welche ihre Güter von entfernten Märkten herbringen" (Sir H. Maine, Village Communities p. 126). Hingegen, wenn dem Handel oder Kapitalismus das Volk mit seiner Arbeit unterthan geworden ist, und in dem Maasse als dieses sich erfüllt hat, hört es auf, Volk zu sein; es wird den ihm fremden äusseren Mächten und Bedingungen adaptirt, es wird gebildet gemacht. Wissenschaft, welche eigentlich die Gebildeten auszeichnet, wird ihm, in was für Mischungen und Formen auch immer, wie eine Medicin zur Heilung seiner Roheit beigebracht. Sehr wider den Willen der Gebildeten, insofern als dieselben mit der kapitalistischen Gesellschaft identisch sind, wird dadurch das zum "Proletariat" verwandelte Volk zum Denken und zur Bewusstheit gefördert über die Be- dingungen, an welche es auf dem Arbeitsmarkte gefesselt ist. Aus seiner Erkenntniss entstehen Beschlüsse und Be- mühungen, solche Fesseln zu sprengen. Es vereinigt sich
den an der Scholle klebenden Bauern, wie auch gegen den soliden, des Handwerkes pflegenden Bürger dar. Diese sind beschränkt, unreif, ungebildet im Vergleiche zu jenem. Wir werden belehrt: »Ist ein Volk schon reif genug, um des eigentlichen Handels zu bedürfen, aber noch zu unreif, um selbst einen nationalen Kaufmannsstand zu haben: so liegt es in seinem eigenen Interesse, dass ein fremdes höher cultivirtes Volk durch einen sehr tief ein- dringenden Activhandel einstweilen die Lücke ausfülle« (Roscher N. Oe. III, S. 134). Aber in Wahrheit ist dies niemals ein Verhältniss von Volk zu Volk, sondern von einzelnen zerstreuten Fremden (obgleich sie in Bezug auf sich selber eine Volksgemeinschaft haben mögen) zu einem wirklichen Volke; da solches ohne ein wenigstens bewohntes (wenn nicht bebautes) eigenes Land nicht gedacht werden kann. Und wo der Handelsmann nicht Fremder ist, da wird er als ein Fremder geachtet. »Der Korn- händler ist niemals (in Indien) Inhaber eines erblichen und in die Dorfgemeinde einverleibten Gewerbes, noch ist er ein Mitglied der Bürgerschaft in Städten, die aus einem oder mehreren Dörfern erwachsen sind. Die Handels- betriebe, welche solchergestalt ausserhalb der organischen Gruppe bleiben, sind diejenigen, welche ihre Güter von entfernten Märkten herbringen« (Sir H. Maine, Village Communities p. 126). Hingegen, wenn dem Handel oder Kapitalismus das Volk mit seiner Arbeit unterthan geworden ist, und in dem Maasse als dieses sich erfüllt hat, hört es auf, Volk zu sein; es wird den ihm fremden äusseren Mächten und Bedingungen adaptirt, es wird gebildet gemacht. Wissenschaft, welche eigentlich die Gebildeten auszeichnet, wird ihm, in was für Mischungen und Formen auch immer, wie eine Medicin zur Heilung seiner Roheit beigebracht. Sehr wider den Willen der Gebildeten, insofern als dieselben mit der kapitalistischen Gesellschaft identisch sind, wird dadurch das zum »Proletariat« verwandelte Volk zum Denken und zur Bewusstheit gefördert über die Be- dingungen, an welche es auf dem Arbeitsmarkte gefesselt ist. Aus seiner Erkenntniss entstehen Beschlüsse und Be- mühungen, solche Fesseln zu sprengen. Es vereinigt sich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><p><pbfacs="#f0228"n="192"/>
den an der Scholle klebenden Bauern, wie auch gegen den<lb/>
soliden, des Handwerkes pflegenden Bürger dar. Diese sind<lb/>
beschränkt, unreif, ungebildet im Vergleiche zu jenem.<lb/>
Wir werden belehrt: »Ist ein Volk schon reif genug, um<lb/>
des eigentlichen Handels zu bedürfen, aber noch zu unreif,<lb/>
um selbst einen nationalen Kaufmannsstand zu haben: so<lb/>
liegt es in seinem eigenen Interesse, dass ein fremdes<lb/><hirendition="#g">höher cultivirtes</hi> Volk durch einen sehr tief ein-<lb/>
dringenden Activhandel einstweilen die Lücke ausfülle«<lb/>
(<hirendition="#k">Roscher</hi> N. Oe. III, S. 134). Aber in Wahrheit ist dies<lb/>
niemals ein Verhältniss von Volk zu Volk, sondern von<lb/>
einzelnen zerstreuten Fremden (obgleich sie in <hirendition="#g">Bezug auf<lb/>
sich selber</hi> eine Volksgemeinschaft haben mögen) zu<lb/>
einem wirklichen Volke; da solches ohne ein wenigstens<lb/>
bewohntes (wenn nicht bebautes) eigenes Land nicht gedacht<lb/>
werden kann. Und wo der Handelsmann nicht Fremder<lb/>
ist, da wird er als ein Fremder geachtet. »Der Korn-<lb/>
händler ist niemals (in Indien) Inhaber eines erblichen und<lb/>
in die Dorfgemeinde einverleibten Gewerbes, noch ist er<lb/>
ein Mitglied der Bürgerschaft in Städten, die aus einem<lb/>
oder mehreren Dörfern erwachsen sind. Die Handels-<lb/>
betriebe, welche solchergestalt ausserhalb der organischen<lb/>
Gruppe bleiben, sind diejenigen, welche ihre Güter von<lb/>
entfernten Märkten herbringen« (<hirendition="#k">Sir H. Maine</hi>, <hirendition="#i">Village<lb/>
Communities p. 126)</hi>. Hingegen, wenn dem Handel oder<lb/>
Kapitalismus das Volk mit seiner Arbeit unterthan geworden<lb/>
ist, und in dem Maasse als dieses sich erfüllt hat, hört es<lb/>
auf, Volk zu sein; es wird den ihm fremden äusseren<lb/>
Mächten und Bedingungen adaptirt, es wird gebildet<lb/>
gemacht. Wissenschaft, welche eigentlich die Gebildeten<lb/>
auszeichnet, wird ihm, in was für Mischungen und Formen<lb/>
auch immer, wie eine Medicin zur Heilung seiner Roheit<lb/>
beigebracht. Sehr wider den Willen der Gebildeten, insofern<lb/>
als dieselben mit der kapitalistischen Gesellschaft identisch<lb/>
sind, wird dadurch das zum »Proletariat« verwandelte Volk<lb/>
zum Denken und zur Bewusstheit gefördert über die Be-<lb/>
dingungen, an welche es auf dem Arbeitsmarkte gefesselt<lb/>
ist. Aus seiner Erkenntniss entstehen Beschlüsse und Be-<lb/>
mühungen, solche Fesseln zu sprengen. Es vereinigt sich<lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[192/0228]
den an der Scholle klebenden Bauern, wie auch gegen den
soliden, des Handwerkes pflegenden Bürger dar. Diese sind
beschränkt, unreif, ungebildet im Vergleiche zu jenem.
Wir werden belehrt: »Ist ein Volk schon reif genug, um
des eigentlichen Handels zu bedürfen, aber noch zu unreif,
um selbst einen nationalen Kaufmannsstand zu haben: so
liegt es in seinem eigenen Interesse, dass ein fremdes
höher cultivirtes Volk durch einen sehr tief ein-
dringenden Activhandel einstweilen die Lücke ausfülle«
(Roscher N. Oe. III, S. 134). Aber in Wahrheit ist dies
niemals ein Verhältniss von Volk zu Volk, sondern von
einzelnen zerstreuten Fremden (obgleich sie in Bezug auf
sich selber eine Volksgemeinschaft haben mögen) zu
einem wirklichen Volke; da solches ohne ein wenigstens
bewohntes (wenn nicht bebautes) eigenes Land nicht gedacht
werden kann. Und wo der Handelsmann nicht Fremder
ist, da wird er als ein Fremder geachtet. »Der Korn-
händler ist niemals (in Indien) Inhaber eines erblichen und
in die Dorfgemeinde einverleibten Gewerbes, noch ist er
ein Mitglied der Bürgerschaft in Städten, die aus einem
oder mehreren Dörfern erwachsen sind. Die Handels-
betriebe, welche solchergestalt ausserhalb der organischen
Gruppe bleiben, sind diejenigen, welche ihre Güter von
entfernten Märkten herbringen« (Sir H. Maine, Village
Communities p. 126). Hingegen, wenn dem Handel oder
Kapitalismus das Volk mit seiner Arbeit unterthan geworden
ist, und in dem Maasse als dieses sich erfüllt hat, hört es
auf, Volk zu sein; es wird den ihm fremden äusseren
Mächten und Bedingungen adaptirt, es wird gebildet
gemacht. Wissenschaft, welche eigentlich die Gebildeten
auszeichnet, wird ihm, in was für Mischungen und Formen
auch immer, wie eine Medicin zur Heilung seiner Roheit
beigebracht. Sehr wider den Willen der Gebildeten, insofern
als dieselben mit der kapitalistischen Gesellschaft identisch
sind, wird dadurch das zum »Proletariat« verwandelte Volk
zum Denken und zur Bewusstheit gefördert über die Be-
dingungen, an welche es auf dem Arbeitsmarkte gefesselt
ist. Aus seiner Erkenntniss entstehen Beschlüsse und Be-
mühungen, solche Fesseln zu sprengen. Es vereinigt sich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 192. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/228>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.