Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

Bild:
<< vorherige Seite

kenntniss sich erstrecken. Dies ist mithin nur eine Aus-
legung, theils im Spinozistischen und Schopen-,
hauerischen
Sinne, theils mit den Mitteln der diese Philo-
sopheme erläuternden, wie auch durch dieselben verdeutlichten
biologischen Descendenz-Theorie, eine Auslegung des Gedan-
kens, mit welchem Kant die Hume'sche Darstellung wirk-
lich überwunden hat. Weil aber dieselbe richtig ist, so ergibt
sich nicht allein die Thatsache, sondern auch die Ursache,
warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, ein
Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken können;
dies sind ehemalige, ja ewige Functionen, welche in die
Structur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das
Nicht-anders-können ist eine Nothwendigkeit, auf welche darum
unsere Gewissheit sich bezieht, weil thätig sein und ge-
mäss seiner Natur thätig sein, einerlei ist, nach formal iden-
tischem Satze.

Wenn aber wir Menschen eine natürliche Denkgemein-
schaft bilden, insofern als die Causalität uns innewohnt
wie die Sinnesorgane und wir folglich auch nothwendiger
Weise irgendwelche Namen bilden, um Wirkendes und Be-
wirktes zu bezeichnen, so kann die Differenz in Bezug auf die-
selben Vorgänge nur aus dem Denken sich ergeben, welche
Subjecte die wirkenden, also die eigentlich wirklichen
(ta.
ontos onta) Dinge seien, und hierüber gehen allerdings Völker,
Gruppen, Individuen auseinander, wenn auch den Meisten ge-
meinsam bleibt, dass sie die Agentien der Natur nach Art
von Menschen und Thieren in mythologischen und poetischen
Bildern vorstellen, was in den Sprachformen fortwährend sich
ausprägt, obschon die Unterscheidung der todten (als der nur
bewegbaren) und der lebendigen (als der sich selbst bewegen-
den) Massen eine frühe Erwerbung des Denkens gewesen ist.
Ueberwiegend bleibt doch die Anschauung aller Natur als
einer lebendigen, alles Wirkens als eines freiwilligen, an wel-
chem die Götter und Dämonen neben den sichtbaren Subjecten
theilnehmen. Wenn aber so zuletzt die Welt und alle ihre
Schicksale in Haupt und Hand eines einigen Gottes gelegt
werden, welcher sie aus nichts hervorgebracht habe und nach
seinem Wohlgefallen erhalte, ihr Ordnungen und Gesetze ge-
geben habe, nach welchen ihr gesammter Verlauf als regel-

kenntniss sich erstrecken. Dies ist mithin nur eine Aus-
legung, theils im Spinozistischen und Schopen-,
hauerischen
Sinne, theils mit den Mitteln der diese Philo-
sopheme erläuternden, wie auch durch dieselben verdeutlichten
biologischen Descendenz-Theorie, eine Auslegung des Gedan-
kens, mit welchem Kant die Hume’sche Darstellung wirk-
lich überwunden hat. Weil aber dieselbe richtig ist, so ergibt
sich nicht allein die Thatsache, sondern auch die Ursache,
warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, ein
Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken können;
dies sind ehemalige, ja ewige Functionen, welche in die
Structur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das
Nicht-anders-können ist eine Nothwendigkeit, auf welche darum
unsere Gewissheit sich bezieht, weil thätig sein und ge-
mäss seiner Natur thätig sein, einerlei ist, nach formal iden-
tischem Satze.

Wenn aber wir Menschen eine natürliche Denkgemein-
schaft bilden, insofern als die Causalität uns innewohnt
wie die Sinnesorgane und wir folglich auch nothwendiger
Weise irgendwelche Namen bilden, um Wirkendes und Be-
wirktes zu bezeichnen, so kann die Differenz in Bezug auf die-
selben Vorgänge nur aus dem Denken sich ergeben, welche
Subjecte die wirkenden, also die eigentlich wirklichen
(τὰ.
ὄντως ὄντα) Dinge seien, und hierüber gehen allerdings Völker,
Gruppen, Individuen auseinander, wenn auch den Meisten ge-
meinsam bleibt, dass sie die Agentien der Natur nach Art
von Menschen und Thieren in mythologischen und poetischen
Bildern vorstellen, was in den Sprachformen fortwährend sich
ausprägt, obschon die Unterscheidung der todten (als der nur
bewegbaren) und der lebendigen (als der sich selbst bewegen-
den) Massen eine frühe Erwerbung des Denkens gewesen ist.
Ueberwiegend bleibt doch die Anschauung aller Natur als
einer lebendigen, alles Wirkens als eines freiwilligen, an wel-
chem die Götter und Dämonen neben den sichtbaren Subjecten
theilnehmen. Wenn aber so zuletzt die Welt und alle ihre
Schicksale in Haupt und Hand eines einigen Gottes gelegt
werden, welcher sie aus nichts hervorgebracht habe und nach
seinem Wohlgefallen erhalte, ihr Ordnungen und Gesetze ge-
geben habe, nach welchen ihr gesammter Verlauf als regel-

<TEI>
  <text>
    <front>
      <div n="1">
        <p>
          <pb facs="#f0026" n="XX"/> <hi rendition="#i"><hi rendition="#g">kenntniss</hi> sich erstrecken. Dies ist mithin nur eine Aus-<lb/>
legung, theils im <hi rendition="#g">Spinozistischen</hi> und <hi rendition="#g">Schopen-,<lb/>
hauerischen</hi> Sinne, theils mit den Mitteln der diese Philo-<lb/>
sopheme erläuternden, wie auch durch dieselben verdeutlichten<lb/>
biologischen Descendenz-Theorie, eine Auslegung des Gedan-<lb/>
kens, mit welchem <hi rendition="#g"><hi rendition="#k">Kant</hi></hi> die <hi rendition="#g">Hume</hi>&#x2019;sche Darstellung wirk-<lb/>
lich überwunden hat. Weil aber dieselbe richtig ist, so ergibt<lb/>
sich nicht allein die Thatsache, sondern auch die Ursache,<lb/>
warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, ein<lb/>
Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken <hi rendition="#g">können</hi>;<lb/>
dies sind ehemalige, ja ewige Functionen, welche in die<lb/>
Structur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das<lb/>
Nicht-anders-können ist eine Nothwendigkeit, auf welche darum<lb/>
unsere <hi rendition="#g">Gewissheit</hi> sich bezieht, weil thätig sein und ge-<lb/>
mäss seiner Natur thätig sein, einerlei ist, nach formal iden-<lb/>
tischem Satze.</hi> </p><lb/>
        <p><hi rendition="#i">Wenn aber wir Menschen eine natürliche Denkgemein-<lb/>
schaft bilden, insofern als die Causalität uns innewohnt<lb/>
wie die Sinnesorgane und wir folglich auch nothwendiger<lb/>
Weise irgendwelche Namen bilden, um Wirkendes und Be-<lb/>
wirktes zu bezeichnen, so kann die Differenz in Bezug auf die-<lb/>
selben Vorgänge nur aus dem Denken sich ergeben, <hi rendition="#g">welche</hi><lb/>
Subjecte die wirkenden, also die eigentlich wirklichen</hi> (&#x03C4;&#x1F70;.<lb/>
&#x1F44;&#x03BD;&#x03C4;&#x03C9;&#x03C2; &#x1F44;&#x03BD;&#x03C4;&#x03B1;) <hi rendition="#i">Dinge seien, und hierüber gehen allerdings Völker,<lb/>
Gruppen, Individuen auseinander, wenn auch den Meisten ge-<lb/>
meinsam bleibt, dass sie die Agentien der Natur nach Art<lb/>
von Menschen und Thieren in mythologischen und poetischen<lb/>
Bildern vorstellen, was in den Sprachformen fortwährend sich<lb/>
ausprägt, obschon die Unterscheidung der todten (als der nur<lb/>
bewegbaren) und der lebendigen (als der sich selbst bewegen-<lb/>
den) Massen eine frühe Erwerbung des Denkens gewesen ist.<lb/>
Ueberwiegend bleibt doch die Anschauung aller Natur als<lb/>
einer lebendigen, alles Wirkens als eines freiwilligen, an wel-<lb/>
chem die Götter und Dämonen neben den sichtbaren Subjecten<lb/>
theilnehmen. Wenn aber so zuletzt die Welt und alle ihre<lb/>
Schicksale in Haupt und Hand eines einigen Gottes gelegt<lb/>
werden, welcher sie aus nichts hervorgebracht habe und nach<lb/>
seinem Wohlgefallen erhalte, ihr Ordnungen und Gesetze ge-<lb/>
geben habe, nach welchen ihr gesammter Verlauf als regel-<lb/></hi></p>
      </div>
    </front>
  </text>
</TEI>
[XX/0026] kenntniss sich erstrecken. Dies ist mithin nur eine Aus- legung, theils im Spinozistischen und Schopen-, hauerischen Sinne, theils mit den Mitteln der diese Philo- sopheme erläuternden, wie auch durch dieselben verdeutlichten biologischen Descendenz-Theorie, eine Auslegung des Gedan- kens, mit welchem Kant die Hume’sche Darstellung wirk- lich überwunden hat. Weil aber dieselbe richtig ist, so ergibt sich nicht allein die Thatsache, sondern auch die Ursache, warum wir ein Seiendes nicht anders denn als wirkend, ein Geschehendes nicht anders denn als bewirkt denken können; dies sind ehemalige, ja ewige Functionen, welche in die Structur unseres Verstandes hineingewachsen sind, und das Nicht-anders-können ist eine Nothwendigkeit, auf welche darum unsere Gewissheit sich bezieht, weil thätig sein und ge- mäss seiner Natur thätig sein, einerlei ist, nach formal iden- tischem Satze. Wenn aber wir Menschen eine natürliche Denkgemein- schaft bilden, insofern als die Causalität uns innewohnt wie die Sinnesorgane und wir folglich auch nothwendiger Weise irgendwelche Namen bilden, um Wirkendes und Be- wirktes zu bezeichnen, so kann die Differenz in Bezug auf die- selben Vorgänge nur aus dem Denken sich ergeben, welche Subjecte die wirkenden, also die eigentlich wirklichen (τὰ. ὄντως ὄντα) Dinge seien, und hierüber gehen allerdings Völker, Gruppen, Individuen auseinander, wenn auch den Meisten ge- meinsam bleibt, dass sie die Agentien der Natur nach Art von Menschen und Thieren in mythologischen und poetischen Bildern vorstellen, was in den Sprachformen fortwährend sich ausprägt, obschon die Unterscheidung der todten (als der nur bewegbaren) und der lebendigen (als der sich selbst bewegen- den) Massen eine frühe Erwerbung des Denkens gewesen ist. Ueberwiegend bleibt doch die Anschauung aller Natur als einer lebendigen, alles Wirkens als eines freiwilligen, an wel- chem die Götter und Dämonen neben den sichtbaren Subjecten theilnehmen. Wenn aber so zuletzt die Welt und alle ihre Schicksale in Haupt und Hand eines einigen Gottes gelegt werden, welcher sie aus nichts hervorgebracht habe und nach seinem Wohlgefallen erhalte, ihr Ordnungen und Gesetze ge- geben habe, nach welchen ihr gesammter Verlauf als regel-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/26
Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. XX. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/26>, abgerufen am 21.11.2024.