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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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beide Entwicklungen sind oft und in hinlänglich belehren-
der Weise geschildert worden. Aber Wenige scheinen den
nothwendigen Zusammenhang, die Einheit und Wechsel-
wirkung dieser Bewegungen zu erkennen. Allerdings: auch
die gelehrten Schriftsteller vermögen beinahe niemals von
ihren Urtheilen des Gefallens und Missfallens sich zu be-
freien und zu einer durchaus unbefangenen, kalten, gleich-
gültigen Auffassung der Physiologie und Pathologie des
socialen Lebens zu gelangen. Sie bewundern das römische
Reich; sie verabscheuen den Ruin der Familie, der Sitte.
Den Causalnexus zwischen den beiden Phänomenen zu sehen,
ist ihr Gesicht nicht ausgebildet. Und freilich gibt es in
allem Wirklichen und Organischen keine Entzweiung von
Ursache und Wirkung, wie der stossenden Kugel und der
gestossenen. In der That aber war ein rationales, wissen-
schaftliches, freies Recht erst möglich durch die actuelle
Emancipation der Individuen von allen Banden der Familie,
des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens,
der angeerbten überlieferten Formen, der Gewohnheit und
Pflicht. Und diese war der Untergang des schaffenden
und geniessenden gemeinschaftlichen Haushalts in Dorf und
Stadt, der ackerbauenden Gemeinde und der städtischen
handwerksmässig, genossenschaftlich, religiös-patriotisch ge-
pflogenen Kunst. Sie war der Sieg des Egoismus, der
Frechheit, der Lüge und Künstelei, der Geldgier, der Ge-
nussucht, des Ehrgeizes, aber freilich auch der beschau-
lichen, klaren, nüchternen Bewusstheit, mit welcher Gebil-
dete und Gelehrte den göttlichen und menschlichen Dingen
gegenüberzustehen versuchen. Und dieser Process ist doch
niemals als ein vollendeter anschaubar. Er findet seinen
letzten, besiegelnden Ausdruck einigermaassen in der kaiser-
lichen Erklärung, welche alle Freien des Reiches zu römi-
schen Bürgern erhebt, Allen die Klage gibt und die Steuer
nimmt. Dass nicht eine Constitution folgte, welche auch alle
Knechte für Freie erklärte, war vielleicht eine letzte Ehr-
lichkeit oder letzte Dummheit der Imperatoren und Juristen.
Denn man hätte wissen können, dass dadurch an dem glück-
lich-friedseligen socialen Zustande nichts wäre geändert
worden. Die alte Hausdienstbarkeit war längst verschwun-

16*

beide Entwicklungen sind oft und in hinlänglich belehren-
der Weise geschildert worden. Aber Wenige scheinen den
nothwendigen Zusammenhang, die Einheit und Wechsel-
wirkung dieser Bewegungen zu erkennen. Allerdings: auch
die gelehrten Schriftsteller vermögen beinahe niemals von
ihren Urtheilen des Gefallens und Missfallens sich zu be-
freien und zu einer durchaus unbefangenen, kalten, gleich-
gültigen Auffassung der Physiologie und Pathologie des
socialen Lebens zu gelangen. Sie bewundern das römische
Reich; sie verabscheuen den Ruin der Familie, der Sitte.
Den Causalnexus zwischen den beiden Phänomenen zu sehen,
ist ihr Gesicht nicht ausgebildet. Und freilich gibt es in
allem Wirklichen und Organischen keine Entzweiung von
Ursache und Wirkung, wie der stossenden Kugel und der
gestossenen. In der That aber war ein rationales, wissen-
schaftliches, freies Recht erst möglich durch die actuelle
Emancipation der Individuen von allen Banden der Familie,
des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens,
der angeerbten überlieferten Formen, der Gewohnheit und
Pflicht. Und diese war der Untergang des schaffenden
und geniessenden gemeinschaftlichen Haushalts in Dorf und
Stadt, der ackerbauenden Gemeinde und der städtischen
handwerksmässig, genossenschaftlich, religiös-patriotisch ge-
pflogenen Kunst. Sie war der Sieg des Egoismus, der
Frechheit, der Lüge und Künstelei, der Geldgier, der Ge-
nussucht, des Ehrgeizes, aber freilich auch der beschau-
lichen, klaren, nüchternen Bewusstheit, mit welcher Gebil-
dete und Gelehrte den göttlichen und menschlichen Dingen
gegenüberzustehen versuchen. Und dieser Process ist doch
niemals als ein vollendeter anschaubar. Er findet seinen
letzten, besiegelnden Ausdruck einigermaassen in der kaiser-
lichen Erklärung, welche alle Freien des Reiches zu römi-
schen Bürgern erhebt, Allen die Klage gibt und die Steuer
nimmt. Dass nicht eine Constitution folgte, welche auch alle
Knechte für Freie erklärte, war vielleicht eine letzte Ehr-
lichkeit oder letzte Dummheit der Imperatoren und Juristen.
Denn man hätte wissen können, dass dadurch an dem glück-
lich-friedseligen socialen Zustande nichts wäre geändert
worden. Die alte Hausdienstbarkeit war längst verschwun-

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[243/0279] beide Entwicklungen sind oft und in hinlänglich belehren- der Weise geschildert worden. Aber Wenige scheinen den nothwendigen Zusammenhang, die Einheit und Wechsel- wirkung dieser Bewegungen zu erkennen. Allerdings: auch die gelehrten Schriftsteller vermögen beinahe niemals von ihren Urtheilen des Gefallens und Missfallens sich zu be- freien und zu einer durchaus unbefangenen, kalten, gleich- gültigen Auffassung der Physiologie und Pathologie des socialen Lebens zu gelangen. Sie bewundern das römische Reich; sie verabscheuen den Ruin der Familie, der Sitte. Den Causalnexus zwischen den beiden Phänomenen zu sehen, ist ihr Gesicht nicht ausgebildet. Und freilich gibt es in allem Wirklichen und Organischen keine Entzweiung von Ursache und Wirkung, wie der stossenden Kugel und der gestossenen. In der That aber war ein rationales, wissen- schaftliches, freies Recht erst möglich durch die actuelle Emancipation der Individuen von allen Banden der Familie, des Landes und der Stadt, des Aberglaubens und Glaubens, der angeerbten überlieferten Formen, der Gewohnheit und Pflicht. Und diese war der Untergang des schaffenden und geniessenden gemeinschaftlichen Haushalts in Dorf und Stadt, der ackerbauenden Gemeinde und der städtischen handwerksmässig, genossenschaftlich, religiös-patriotisch ge- pflogenen Kunst. Sie war der Sieg des Egoismus, der Frechheit, der Lüge und Künstelei, der Geldgier, der Ge- nussucht, des Ehrgeizes, aber freilich auch der beschau- lichen, klaren, nüchternen Bewusstheit, mit welcher Gebil- dete und Gelehrte den göttlichen und menschlichen Dingen gegenüberzustehen versuchen. Und dieser Process ist doch niemals als ein vollendeter anschaubar. Er findet seinen letzten, besiegelnden Ausdruck einigermaassen in der kaiser- lichen Erklärung, welche alle Freien des Reiches zu römi- schen Bürgern erhebt, Allen die Klage gibt und die Steuer nimmt. Dass nicht eine Constitution folgte, welche auch alle Knechte für Freie erklärte, war vielleicht eine letzte Ehr- lichkeit oder letzte Dummheit der Imperatoren und Juristen. Denn man hätte wissen können, dass dadurch an dem glück- lich-friedseligen socialen Zustande nichts wäre geändert worden. Die alte Hausdienstbarkeit war längst verschwun- 16*

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 243. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/279>, abgerufen am 27.11.2024.