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Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887.

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Begriff der socialen Willkür schlechthin zu ihrer Ergänzung
fordert. Dort geht ein realer objectiver Geist aus der Sub-
stanz des objectiven Geistes, als sein Ausdruck und seine
Modification hervor. Hier entsteht ein Atom des ideellen
Objectiven, welches in ein absolutes Ganzes von solcher Art
sich hineinpassen muss, um auch unabhängig von seinen
Subjecten in objectiver Existenz gedacht werden zu können.
Wir schreiten nun dahin fort, die übrigen Formen gemein-
schaftlichen und gesellschaftlichen Willens zu entwickeln.
Hierbei ist zu erinnern, dass dieselben nur betrachtet wer-
den können, inwiefern sie nach innen verbindlich wirken
oder die einzelnen Willen determiniren. In diesem Sinne
ist Verständniss dem Gefallen, Eintracht der Gesinnung
analog und können wechselweise aus einander erklärt wer-
den. Und so bestimme ich die Analogie von Gewohnheit
als Brauch, die von Gemüth als Sitte. Brauch und Sitte
sind mithin der animalische Wille menschlicher Gemein-
schaft. Sie setzen eine oft wiederholte gemeinsame Thätig-
keit voraus, welchen ursprünglichen Sinnes auch immer,
aber durch die Uebung, das Herkommen, die Ueberlieferung,
leicht und natürlich, von selbst verständlich geworden,
und daher, unter den gegebenen Umständen, für noth-
wendig
gehalten. Die wichtigsten Bräuche des Volkes
knüpfen sich an die Ereignisse des Familienlebens: Geburt,
Hochzeit, Sterben, welche regelmässig wiederkehren und
woran, ob sie gleich am nächsten die einzelnen Häuser an-
gehen, alle, auch nachbarlich Zusammenlebende, unwillkür-
lichen Antheil nehmen; wo Clan und Gemeinde noch zu-
sammenfallen, da ist die Gemeinde selber eine grosse
Familie; nachher aber empfindet sie doch die einzelnen Fa-
milien als ihre Glieder, und je mehr ein solches Glied für
sie bedeutend, edel, erhaben ist, desto williger und stärker
(wo nicht feindliche Motive dazwischentreten) die allgemeine
Theilnahme. Dies bleibt immer der innere Sinn des Brauches;
sein anfänglicher Inhalt, der theils einfache Handlung, theils
ein symbolischer Ausdruck oder sinnliches Zeichen eines
Gedankens ist, kann dagegen zur leeren Form werden oder
(wie Alles, was dem Gedächtniss angehört) in Vergessenheit
fallen. Der Gedanke ist entweder: Begründung, Bestätigung

Begriff der socialen Willkür schlechthin zu ihrer Ergänzung
fordert. Dort geht ein realer objectiver Geist aus der Sub-
stanz des objectiven Geistes, als sein Ausdruck und seine
Modification hervor. Hier entsteht ein Atom des ideellen
Objectiven, welches in ein absolutes Ganzes von solcher Art
sich hineinpassen muss, um auch unabhängig von seinen
Subjecten in objectiver Existenz gedacht werden zu können.
Wir schreiten nun dahin fort, die übrigen Formen gemein-
schaftlichen und gesellschaftlichen Willens zu entwickeln.
Hierbei ist zu erinnern, dass dieselben nur betrachtet wer-
den können, inwiefern sie nach innen verbindlich wirken
oder die einzelnen Willen determiniren. In diesem Sinne
ist Verständniss dem Gefallen, Eintracht der Gesinnung
analog und können wechselweise aus einander erklärt wer-
den. Und so bestimme ich die Analogie von Gewohnheit
als Brauch, die von Gemüth als Sitte. Brauch und Sitte
sind mithin der animalische Wille menschlicher Gemein-
schaft. Sie setzen eine oft wiederholte gemeinsame Thätig-
keit voraus, welchen ursprünglichen Sinnes auch immer,
aber durch die Uebung, das Herkommen, die Ueberlieferung,
leicht und natürlich, von selbst verständlich geworden,
und daher, unter den gegebenen Umständen, für noth-
wendig
gehalten. Die wichtigsten Bräuche des Volkes
knüpfen sich an die Ereignisse des Familienlebens: Geburt,
Hochzeit, Sterben, welche regelmässig wiederkehren und
woran, ob sie gleich am nächsten die einzelnen Häuser an-
gehen, alle, auch nachbarlich Zusammenlebende, unwillkür-
lichen Antheil nehmen; wo Clan und Gemeinde noch zu-
sammenfallen, da ist die Gemeinde selber eine grosse
Familie; nachher aber empfindet sie doch die einzelnen Fa-
milien als ihre Glieder, und je mehr ein solches Glied für
sie bedeutend, edel, erhaben ist, desto williger und stärker
(wo nicht feindliche Motive dazwischentreten) die allgemeine
Theilnahme. Dies bleibt immer der innere Sinn des Brauches;
sein anfänglicher Inhalt, der theils einfache Handlung, theils
ein symbolischer Ausdruck oder sinnliches Zeichen eines
Gedankens ist, kann dagegen zur leeren Form werden oder
(wie Alles, was dem Gedächtniss angehört) in Vergessenheit
fallen. Der Gedanke ist entweder: Begründung, Bestätigung

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[248/0284] Begriff der socialen Willkür schlechthin zu ihrer Ergänzung fordert. Dort geht ein realer objectiver Geist aus der Sub- stanz des objectiven Geistes, als sein Ausdruck und seine Modification hervor. Hier entsteht ein Atom des ideellen Objectiven, welches in ein absolutes Ganzes von solcher Art sich hineinpassen muss, um auch unabhängig von seinen Subjecten in objectiver Existenz gedacht werden zu können. Wir schreiten nun dahin fort, die übrigen Formen gemein- schaftlichen und gesellschaftlichen Willens zu entwickeln. Hierbei ist zu erinnern, dass dieselben nur betrachtet wer- den können, inwiefern sie nach innen verbindlich wirken oder die einzelnen Willen determiniren. In diesem Sinne ist Verständniss dem Gefallen, Eintracht der Gesinnung analog und können wechselweise aus einander erklärt wer- den. Und so bestimme ich die Analogie von Gewohnheit als Brauch, die von Gemüth als Sitte. Brauch und Sitte sind mithin der animalische Wille menschlicher Gemein- schaft. Sie setzen eine oft wiederholte gemeinsame Thätig- keit voraus, welchen ursprünglichen Sinnes auch immer, aber durch die Uebung, das Herkommen, die Ueberlieferung, leicht und natürlich, von selbst verständlich geworden, und daher, unter den gegebenen Umständen, für noth- wendig gehalten. Die wichtigsten Bräuche des Volkes knüpfen sich an die Ereignisse des Familienlebens: Geburt, Hochzeit, Sterben, welche regelmässig wiederkehren und woran, ob sie gleich am nächsten die einzelnen Häuser an- gehen, alle, auch nachbarlich Zusammenlebende, unwillkür- lichen Antheil nehmen; wo Clan und Gemeinde noch zu- sammenfallen, da ist die Gemeinde selber eine grosse Familie; nachher aber empfindet sie doch die einzelnen Fa- milien als ihre Glieder, und je mehr ein solches Glied für sie bedeutend, edel, erhaben ist, desto williger und stärker (wo nicht feindliche Motive dazwischentreten) die allgemeine Theilnahme. Dies bleibt immer der innere Sinn des Brauches; sein anfänglicher Inhalt, der theils einfache Handlung, theils ein symbolischer Ausdruck oder sinnliches Zeichen eines Gedankens ist, kann dagegen zur leeren Form werden oder (wie Alles, was dem Gedächtniss angehört) in Vergessenheit fallen. Der Gedanke ist entweder: Begründung, Bestätigung

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Zitationshilfe: Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin, 1887, S. 248. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/toennies_gemeinschaft_1887/284>, abgerufen am 27.11.2024.